Fleischeslust - Erzaehlungen
sie aus der blutroten Höhle ihrer schlaflosen Nacht hervorkroch wie eine Löwin, die man mit einem spitzen Stock aufgestöbert hatte, und er wußte schon lange, was es für das tägliche Überleben bedeutete, ihr das Placebo eines makellosen Frühstücks zu servieren. Als Willis vergeblich in die bodenlosen Tiefen des Brotkastens spähte, wurde ihm klar, daß eine ausgewachsene Krise ins Haus stand.
Draußen brach ein Morgen ohne Sonne an und erfüllte die Küche mit kränklichem, hoffnungslosem Licht. Einen Moment lang stand Willis ratlos an der Anrichte und sah sich um, als wäre ihm der Ort vollkommen fremd, dann faßte er sich wieder und ihm fiel der Quick-Stop-Laden an der Ecke ein, der rund um die Uhr offen war. Ob die wohl welches hatten? Keine Chance, entschied er, nachdem er im Geiste die hellerleuchteten, aber kümmerlich gefüllten Regale abgegangen war – Bier hatten sie, ja, Zigaretten, Pornomagazine, Schokoriegel, Videos, Kaugummi –, aber wer brauchte Brot? Er konnte sich die sechs alten Packungen mit Gold-Toast vorstellen, die in der Cellophanverpackung hart wurden, dennoch holte er seine Baseballmütze aus dem Schrank, trat zur Tür hinaus und ging quer über den taufeuchten Rasen zum Auto, denn zu verlieren hatte er ohnehin nichts.
Als er draußen mit den Schlüsseln an der Tür von Muriels Wagen herumfummelte – beide nannten ihn »Muriels Wagen«, weil sie damals darauf bestanden hatte, das Ding zu kaufen, obwohl sie in New York aufgewachsen war und noch nie im Leben hinter einem Lenkrad gesessen hatte –, fiel ihm eine Veränderung auf. Was war es? Da war der scharfe Duft des Meeres, viel kräftiger als sonst, und die Atmosphäre schien ihn direkt zu berühren, schwer und feucht, ein Ziehen und Zerren wie von tausend kleinen Fingern. Und die Vögel – wo waren die Vögel geblieben? Kein Laut war zu hören, bis auf das Knattern eines Lasters auf der Schnellstraße... aber er hatte wirklich keine Zeit zu trödeln, die Luft zu schnuppern und sich mit den kleinen Mysterien des Lebens zu beschäftigen wie ein einfältiges Kind auf dem Schulweg, also stieg er ins Auto, ließ den Motor aufheulen, den kaputten Auspuff krachen und dröhnen, daß jeder Hund in der Nachbarschaft aufheulte – laut war es jetzt, viel zu laut –, und rumpelte in Richtung des Quick-Stop los.
Als Willis eintrat, zuckte der Mann hinter der Ladentheke heftig zusammen, entspannte sich aber beinahe im selben Moment wieder – das Geschäft wurde ein- bis zweimal pro Woche überfallen, solange Willis denken konnte, da hatte der gute Mann durchaus das Recht, etwas nervös zu sein. Willis trat an die Theke, tastete seine Taschen unbewußt nach Brieftasche, Schlüssel und Scheckheft ab, und sagte: »Brot?« Der Verkäufer war klein, schmächtig, dunkelhäutig und blickte in stummem Unverständnis zu Willis auf, als hätte dieser in einer fremden Sprache gesprochen – und so war es ja wohl auch: Willis wußte nicht, woher der Bursche kam – Pakistani, Puertoricaner oder Paschtune? –, doch ganz offensichtlich war seine Muttersprache nicht Englisch. »Pan?« probierte es Willis, indem er ihm ein spanisches Nugget hinwarf, das er während des Krieges in Texas aufgelesen hatte. Der Mann starrte ihn aus tief eingesunkenen Augen an. Er war um die einundzwanzig – so alt mußte er sein, um hier arbeiten zu dürfen –, aber Willis, der ihn aus der Perspektive seines fortgeschrittenen Lebensalters sah, kam er absurd jung vor: zwölf, zehn Jahre, ein Baby. Auf seine Frage hob der Junge/ Mann träge den Arm, um nach hinten zu deuten, und Willis folgte der angegebenen Richtung. Nudeln, Katzenstreu, Käsechips... und tatsächlich, da war es – Brot, eingezwängt zwischen dem Sonnenöl und den Wegwerfwindeln. Eine triste kleine Sammlung aus Hot-dog-Semmeln, Weizenfladen, Tortillas und ein einziger Laib Nußbrot mit Konservierungsstoffen begrüßten ihn: natürlich kein Biovita-Haferkleie-Gesundheitsbrot. Hatte er etwa Wunder erwartet?
Als er zurück in die Küche schlurfte, inzwischen deutlich hinter dem Zeitplan, das Nußbrot wie einen Football unter den Arm geklemmt, traf ihn ein Schock: Muriel war auf. Er sah ihre verräterischen Spuren auf der Arbeitsplatte, an der Kühlschranktür und vor der Kaffeemaschine. Er sah den Kaffeesatz vom Vortag, der in Richtung Mülleimer geschleudert worden war und nun dahinter von der Wand herunterlief, sah die Stelle, wo sie ihre Tasse auf dem Herd abgestellt hatte, und daß sie auf der Suche
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