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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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zärtlichen Umarmungen, Küssen und Schulterklopfen. Das war jedenfalls das übliche Szenario – nur heute war alles anders. Willis spürte es, noch ehe er durch den Flur in die Küche schlurfte, wo sie vor einer Suppendose und einer Schachtel mit Salzcrackers stand. Er sah, daß sie noch immer in Nachthemd und Morgenmantel herumlief – ein schlechtes Zeichen –, und er erkannte den umnebelten, gekränkten, verletzten Ausdruck in ihren Augen. Er blieb an der Küchentür stehen und wartete.
    »Willis, ach, Willis«, seufzte sie – oder nein: stöhnte, blökte, jammerte sie, als hätte sie in den fünf Stunden, seit er sie zum letztenmal gesehen hatte, alle Prüfungen Hiobs durchgemacht. Er kannte den Tonfall und wußte, daß Ärger in der Luft lag – alles mögliche hätte sie ausrasten lassen können, ein verstopfter Ausguß, der Krieg in Bosnien oder weinselige Erinnerungen an ihren ersten Mann, den Heiligen. »Liebling«, weinte sie und ging durch die Küche auf ihn zu, um ihn derart heftig zu umarmen, daß ihm die Nieren schmerzten, »du mußt mir helfen – nur einen kleinen Gefallen tun, einen ganz kleinen.« Ihre Stimme verhärtete sich fast unmerklich, während sie sich an ihn klammerte und in einer Art Trauertanz hin- und herschaukelte: »Alles ist einfach so, so verdorben. «
    Er war fünfundsiebzig und hatte gearbeitet, seit er aus der Wiege geklettert war. Die meisten Männer in seinem Alter waren tot. Er war müde. Seine Hüfte fühlte sich an, als hätte eine ganze Armee von wahnsinnigen Akupunkteuren glühende Nadeln hineingetrieben. Er wollte sich nur endlich hinsetzen.
    »Komm, Liebling«, säuselte sie, ganz Anteilnahme, und führte ihn umständlich an den Tisch, immer noch halb an ihn geklammert. »Ruh dich aus und iß, du Armer, du mußt ausgehungert sein. Und erschöpft sicher auch. Regnet es draußen etwa?«
    Diese Frage erforderte keine Antwort, war nur eine Variante ihres Mittagessen-Monologs, eine Ablenkung, die ihn vom eigentlichen Thema abbringen sollte, von der Krise, worin immer sie bestand – der kaputte Fernseher vermutlich –, der Krise, die seine sofortige Aufmerksamkeit und Expertise erforderte. Und nein, es regnete nicht, noch nicht, aber der Wind tobte draußen wie ein Höllenfeuer, und der Vormittag war ein totales Desaster gewesen, die reinste Zeitverschwendung. Die Zimmerleute waren nicht gekommen, der verfluchte Klempner auch nicht, und so hatte er den ganzen Vormittag in dem Skelett von Haus gewartet – die Bauarbeiten waren längst im Verzug – und zugesehen, wie der Wind die Wellen auftürmte und gegen die Mole branden ließ, als wäre sie aus Pappe und nicht aus Beton. Er hatte die Mistkerle fünf- oder sechsmal von der Zelle am Strand aus angerufen, aber keiner hatte abgehoben. Schwächlinge waren das, hatten Angst vor ein bißchen schlechtem Wetter. Er blickte auf, und da stand die Suppe vor ihm auf dem Tisch, dazu ein Teller mit Sardinen, sechs Würfel Cheddar-Käse und ein Glas Apfelsaft. Muriel stand direkt vor ihm.
    Er trank einen Schluck Saft und griff nach dem Löffel, legte ihn aber gleich wieder weg. Wozu das Unvermeidliche hinauszögern? »Was ist denn los, Schatzi?« fragte er.
    »Ich weiß, du wirst dich nicht darüber freuen, aber du mußt für mich zum Postamt fahren.«
    »Zum Postamt?« Er wollte nicht zum Postamt – er wollte zurück zu der Baugrube und den hölzernen Gebeinen des entstehenden Hauses, zu den Haufen von Schutt und Abraum und dem heißen scharfen Geruch nach Dachdeckerteer. Er dachte an den Arzt und seine Frau, ein junges Paar Anfang Vierzig, das ihn beauftragt hatte, ihnen ihr Traumhaus am Meer zu bauen. Er hatte ihnen fünfhundert Quadratmeter mit Balkons, Sonnenterrasse und Rundumblick in sechs Monaten Bauzeit versprochen – und nun waren schon zwei Monate vergangen, aber nicht mal das verdammte Balkenwerk war fertig. Und da wollte Muriel ihn zum Postamt schicken.
    »Es ist wegen dieser Heim-Wetterstation«, sagte sie. »Die muß zum Hersteller zurück. Und zwar heute, sofort, jetzt gleich.« Ihre Stimme drohte sich zu entzünden. »Ich will sie keine Sekunde länger im Haus haben... wenn diese Schweine denken, sie könnten mich...«
    Sie steigerte sich hinein, ihr Zorn richtete sich einstweilen gegen die Heim-Wetterstation, was immer das war, und gegen vorläufig namenlose Schweine, wer immer die waren, aber er wußte genau: wenn er nicht den Überblick behielt und aufpaßte, könnte sich die volle Wut ihrer Empörung auf ihn

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