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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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entladen, mit der jähen, tödlichen Schnelligkeit einer Lawine. Er hörte sich sagen: »Ich kümmere mich darum, Schatzi, mach dir keine Sorgen.«
    Doch als er aufsah, um ihre Reaktion abzuwägen, merkte er, daß er mit sich selbst sprach: sie war hinausgegangen. Was war denn jetzt los? Er hörte Geräusche aus dem Eßzimmer – das Reißen von Klebeband, ungeduldiges Rascheln mit Packpapier, gefolgt vom lauten Stakkato ihrer Schritte –, und ehe er den Löffel an die Lippen heben konnte, war sie zurück, mit einem Pappkarton von der Größe eines Möbelstücks. Sie rauschte durch den Raum und knallte das Ding mit solchem Getöse auf den Tisch, daß die Suppenschüssel schepperte und der Saft gegen den Rand des Glases schwappte. Draußen vor den Fenstern heulte der Wind.
    »Nun sieh dir das an«, sagte sie. Ihre Ellenbogen hüpften, als sie das Paket aufriß und ihm ein langes, schmales Holzbrett entnahm, auf dem drei blinkende Meßinstrumente montiert waren. Er verspürte einen Moment der Erleuchtung: offenbar die Wetterstation. »Hast du schon je im Leben solchen Schrott gesehen?«
    Es sah ganz in Ordnung aus. Er wollte seine Suppe essen, er wollte schlafen, er wollte, daß sich das Haus des Arztes aus den Dünen erhob und tapfer dem Meer trotzte, perfekt in jedem Detail. »Was ist damit, Schatzi?«
    »Was damit ist?« Ihre Stimme sprang ein Oktave in die Höhe. »Bist du denn blind? Sieh doch hin« – ein stumpf angekauter Fingernagel pochte auf das mittlere Instrument – »das ist damit. Schrott. Nichts als Schrott.«
    Stirnrunzelnd musterte er das Ding, während seine Suppe kalt wurde, dann holte er die Brille aus der Hemdtasche und untersuchte es näher. Der Zeiger des Barometers hing ganz unten links bei 700 mm fest – so etwas hatte Willis noch nie gesehen. Er hob das Instrumentenbrett vom Tisch und schüttelte es. Drehte es um. Klopfte an das Glas. Nichts.
    Muriel kochte. Sie legte mit einer Tirade über Schwindler und Betrüger los, über die Japaner und was sie ihrem Bruder angetan hatten, ganz zu schweigen von der amerikanischen Volkswirtschaft, und um sie zu beruhigen, konnte er nichts weiter tun, als ihr in allem zuzustimmen und immer wieder »Schatzi« zu säuseln, bis seine Suppe eiskalt war und er mit einem Ruck vom Tisch aufstand, das Paket unter den Arm klemmte und sich auf den Weg zum Postamt machte.
    Der Wind hatte sich gesteigert, peitschte die Baumwipfel hin und her wie alte Fetzen, und der Geruch des Ozeans war stärker geworden, ranzig und durchdringend, als hätte sich der Meeresboden nach oben gestülpt und seine faulenden Sedimente ans Ufer gekippt. Eine Mülltonne kollerte die Straße entlang, und über den Rasen wirbelte eine große Papiertüte, die sich kurz um seine Beine schlang. Als er sich ins Auto setzte, das Paket neben sich, riß ihm der Wind die Tür aus der Hand, und ihm wurde klar, daß es an diesem Tag wohl nichts mehr mit der Arbeit werden würde. So wie es aussah, konnte er froh sein, wenn das, was sie bisher aufgebaut hatten, am nächsten Morgen noch stand. Kein Wunder, daß die Zimmerleute nicht gekommen waren: das hier war ein ausgewachsener Sturm.
    Er wich Mülleimerdeckeln und Ästen aus, die wie von Zauberhand über den Asphalt getrieben wurden, und sein Wagen brachte ihn bis zum Postamt, treu wie ein altes Pferd. Die Straßen waren verlassen. Er traf auf genau drei andere Autos, die alle mit Licht fuhren und wie besessen rasten. An der Kreuzung beim Postamt wartete er eine Ewigkeit und sah zu, wie die rote Ampel an ihrer Aufhängung schaukelte. Es war so dunkel, als würde es dämmern. Vielleicht kam ja tatsächlich ein Hurrikan, dachte er, vielleicht war das der Grund. Er hätte gern Radio gehört, aber das blöde Ding hatte ohnehin nie funktioniert, und vor zwei Monaten hatte irgendein Idiot das Fenster auf der Fahrerseite eingeschlagen und sich damit davongemacht.
    Während er so dasaß und die Ampel über der verlassenen Straße hüpfen und schwanken sah, verspürte er eine plötzliche Vorahnung, einen heftigen Stich der Angst, der ihn veranlaßte, den Motor ungeduldig aufheulen zu lassen und ein paar Zentimeter auf die Kreuzung zu fahren. Vielleicht war es besser, umzukehren und sich um die Fenster, um Muriel zu kümmern – in Corpus Christi hatte er einmal einen Hurrikan erlebt, damals waren für sechs Tage Strom und Wasser ausgefallen. Er erinnerte sich noch an eine alte Frau, die mitten auf einer überschwemmten Straße gesessen hatte, um den Kopf einen

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