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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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blutigen Verband aus einer Wohnzimmergardine. Was für ein Bild. Und er und seine Kumpel hatten zwei Kisten Tequila aus einem verwüsteten Schnapsgeschäft abgeschleppt. Er sollte besser heimfahren. Das sollte er.
    Doch dann schaltete die Ampel auf Grün, und er dachte sich, da er nun schon mal hier sei, könne er die Sache ebensogut erledigen – er würde zu Hause einen mordsmäßigen Krach bekommen, wenn er’s nicht tat, mit oder ohne Hurrikan –, also fuhr er auf den Parkplatz, stellte den Wagen ab und griff nach dem Paket. Fünf Minuten, länger würde es nicht dauern. Und dann nichts wie nach Hause.
    Als er den Weg entlangging – und jetzt blies es wirklich ordentlich, meine Herren, er bekam Dreck oder Sand oder sonstwas in die Augen –, sah er den Postamtsleiter und einen bärtigen Kerl mit Pferdeschwanz mit einer Spanplatte herumhantieren, die groß genug war, um ein Einkaufszentrum zu vernageln. Der Postamtsleiter hielt einen Hammer in der Hand und rief dem anderen etwas zu, doch in diesem Moment packte eine Bö die Spanplatte, und sie wurden beide ins Gebüsch geschleudert. Willis duckte sich und griff nach seiner Baseballmütze, aber zu spät: sie flog ihm vom Kopf und segelte hoch über den Bäumen davon, wie eine Tontaube. Er ging schneller und kämpfte sich durch die schwere Doppeltür ins Postamt.
    Hinter dem Schalter saß niemand, es wartete auch keine Schlange; im ganzen Gebäude war, soweit er sah, kein Mensch. Alle Lampen brannten, und die blankgebohnerten Dielen erstreckten sich wie immer durch den Korridor, aber es herrschte eine gespenstische Stille. Draußen toste der Wind gegen die Glasfenster und trieb jetzt erste Regenspritzer vor sich her. Willis drückte auf die Glocke, nur um sicherzustellen, daß niemand im Sortierraum oder auf der Toilette oder so war, und wandte sich dann zum Gehen. So schwer es war, Muriel mußte es einsehen: die Post hatte geschlossen. Ein Hurrikan war im Anzug. Er hatte getan, was er konnte.
    Er hatte gerade die innere Tür aufgezogen, als das große Glasfenster in der Eingangshalle zerbrach, mit einem Knall wie ein Champagnerkorken, gefolgt vom Scheppern des Glases. Vergiß das blöde Paket , sagte ihm sein Verstand, schmeiß es weg, fahr nach Hause und verkriech dich im Keller mit Muriel und der Katze und einem Satz Büchsen mit Schweinefleisch und Bohnen , aber die Beine versagten ihm den Dienst. Er war wie erstarrt, als weiter hinten noch ein Fenster splitterte und das Licht erst flackerte, dann ganz ausging. »He, Sie da, Alterchen!« rief jemand, und da stand der Postamtsleiter direkt neben ihm, bleich und nervös, das Haar zerzaust. Der bärtige Mann war auch dabei, und in ihren Augen flackerte die Aufregung. Im nächsten Moment hatten sie Willis am Arm gepackt; der Wind gellte in seinen Ohren. Ein Wirbel aus weißen Briefkuverts erhob sich plötzlich in die Luft, und er rannte, rannte sehr schnell, durch einen Korridor, hinein in Dunkelheit und Stille.
    Er roch den Postamtsleiter und den anderen, roch die Nässe und ihre Angst. Ihr Atem war ein rasches, gieriges Keuchen. Von draußen, von weit weg, hörte er immer noch das gedämpfte Heulen des Windes.
    »Hat jemand Zündhölzer?« Es war die Stimme des Postamtsleiters, eine Stimme, die er gut kannte, vom Schlangestehen, vom Schalterfenster und der glänzenden, gefliesten Weite der Eingangshalle.
    »Hier«, sagte eine zweite Stimme, und das aufflammende Streichholz beleuchtete das pockennarbige Gesicht des Bärtigen und einen Lagerraum aus Beton voller Postsäcke, Pappkartons, Papierstapel.
    Der Postamtsleiter wühlte hinter sich in einem Schrank und förderte eine Taschenlampe zutage, einen dieser dicken Kästen, die einen leuchtturmartigen Lichtstrahl an einem und eine kleine rote Notlampe am anderen Ende haben. Er schwenkte die Lampe durch den Raum, dann stellte er sie auf einem Karton ab und schaltete sie aus. Nun glomm nur noch ein gespenstischer rötlicher Schein. »Meine Güte«, sagte er, »habt ihr gesehen, wie dieses Fenster zersprungen ist? Irgendwelche Splitter abgekriegt, Bob?«
    Bob verneinte.
    »Mann, da haben wir noch mal Glück gehabt.« Der Postamtsleiter war ein großer Bär von Mitte Fünfzig, der jahrelang Vollbart getragen hatte, jetzt aber das typische bleiche Stoppelkinn der Männer zeigte, die gerade erst Bekanntschaft mit einem Rasierapparat geschlossen hatten. Eine Weile schwieg er. In der Ferne heulte der Wind. »Mein Gott, ich hoffe nur, Becky ist nicht da draußen – sie

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