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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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wollte heute Jimmy zum Zahnarzt bringen, zum Kieferorthopäden, meine ich...«
    Bob antwortete nicht, aber beide sahen gleichzeitig zu Willis, als hätten sie ihn erst jetzt bemerkt.
    »Sind Sie in Ordnung?« fragte der Postamtsleiter.
    »Ja, schon«, sagte Willis. Das stimmte doch, oder? Aber was war mit dem Auto? Was war mit Muriel? »Hören Sie, ich muß nach Hause –«
    Der Postamtsleiter lachte laut auf. »Nach Hause? Begreifen Sie denn nicht? Das da draußen ist der Hurrikan Leroy – Sie können von Glück reden, wenn Sie Ihr Zuhause nachher überhaupt noch haben – welcher Teufel hat Sie eigentlich geritten, bei dem Wetter Auto zu fahren? Haben Sie keinen Fernseher? Meine Güte«, endete er, als faßte das alles zusammen.
    Es wurde still, und Bob ließ sich mit einem Seufzer in ein Polster aus zusammengefalteten Kartons sinken. »Tja«, sagte er, und das matte Rotlicht schimmerte auf der Whiskeyflasche, die er aus seinem Hemd zog, »wir können uns ebensogut ein bißchen amüsieren – sieht aus, als wär’n wir noch ’ne Weile hier.«
    Willis mußte eingenickt sein. Die Flasche war ein paarmal herumgegangen, und er hatte das schöne, tiefe Brennen des Whiskeys gespürt – ein Geschmack, den Muriel ihm verwehrte; wenn es darum ging, war sie schlimmer als diese Entwöhnungsgruppen, dabei nuckelte sie doch selbst den ganzen Tag an der Weinflasche –, und dann hatte Bob mit gepreßter, kehliger Stimme zu jammern angefangen: über seine Ehe, seine Rückenschmerzen, daß seine Schwester Fürsorge bezog und sein Kater alle Bettpfosten und Tischbeine markierte, und Willis fand es zunehmend schwieriger, das rotglühende Leuchten nicht verschwimmen zu lassen. Er saß vornübergebeugt auf einem Klappstuhl, den der Postamtsleiter aus einem Büro geholt hatte, und als er sich seiner Umwelt wieder bewußt wurde, zählte Bob gerade die tragischen Tricks der Autoversicherungsbranche auf, sein Gesicht gespenstisch in dem fahlen Höllenlicht. Einen Augenblick lang wußte Willis nicht, wo er war, doch dann hörte er den Wind in der Ferne heulen, und es fiel ihm wieder ein.
    »Nach bloß zwei Unfällen, Bob? Das glaub ich dir nicht«, sagte der Postamtsleiter gerade.
    »Mann«, erwiderte Bob, »ich zeig dir gern die Rechnung.«
    Willis versuchte aufzustehen, aber seine Hüfte spielte nicht mit. »Muriel«, sagte er.
    Beide Gesichter wandten sich ihm zu, das bärtige und das andere, das eigentlich auch hätte bärtig sein sollen, und sie wirkten befremdlich und bedrohlich in diesem unnatürlichen Licht. »Alles okay, Alterchen?« fragte der Postamtsleiter.
    Willis fühlte sich wie Methusalem, wie Rip Van Winkle nach seinem langen Schlaf; er fühlte sich müde und hoffnungslos, als wäre alles umsonst gewesen, was er in seinem Leben gelernt und getan hatte. »Ich muß jetzt« – er bremste sich; fast hätte er gesagt: Ich muß jetzt nach Hause , aber sie hätten ihn wahrscheinlich aufzuhalten versucht, und er wollte sich auf keine Diskussion einlassen. »Ich muß mal pinkeln«, sagte er.
    Der Postamtsleiter musterte ihn kurz. »Geht noch immer ein ziemlicher Sturm da draußen«, sagte er, »aber im Radio sagen sie, das Schlimmste ist vorbei.« Nun hörte auch Willis das leise Gebrabbel des Radios – eines dieser kleinen Transistorgeräte, wie sie jetzt alle Jugendlichen hatten; es steckte in der Brusttasche des Postamtsleiters. »Warten Sie noch eine Stunde«, sagte er, »und dann kümmern wir uns darum, daß Sie gut heimkommen. Ihr Auto ist übrigens okay, falls Sie sich deswegen Sorgen machen. Höchstens daß vielleicht ein Ast aufs Dach gekracht ist.«
    Willis sagte gar nichts.
    »Den Gang runter und dann links«, sagte der Postamtsleiter.
    Er brauchte einen Moment, um gegen das Beharrungsvermögen seines Hüftgelenks anzukämpfen, dann tauchte er aus dem Dunkel des Lagerraums auf und trat in das düstere graue Zwielicht des Korridors. Nuggets aus Glas knirschten und schlitterten unter seinen Füßen davon, und alles war naß. Draußen regnete es stark, und dieser ranzige Geruch lag immer noch in der Luft, aber der Wind schien nachgelassen zu haben. Er gelangte zur Toilette und ging daran vorbei.
    In der Schalterhalle herrschte ein Chaos aus feuchtem Papier und Laub, doch die Tür ließ sich problemlos öffnen, und im nächsten Augenblick stand Willis auf der Treppe, und der Regen prasselte mit aller Macht auf seinen unbedeckten kahlen Kopf herab. Automatisch griff er nach der Baseballmütze, doch dann fiel ihm ein,

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