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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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grinsende, zwinkernde, zeigestockschwenkende Abbild des Meteorologen.
    Später, als Willis zur Arbeit gegangen war und Muriel Gelegenheit gehabt hatte, sich wieder zu beruhigen und über den zerstörten Fernseher und die Espressoflecken auf dem Teppich nachzudenken, empfand sie Scham und Zerknirschtheit. Sie hatte sich von ihrem Temperament überwältigen lassen, das war falsch gewesen, sie gestand es unumwunden ein. Schlimmer noch: wem hatte sie damit weh getan – außer sich selbst? Es war, als hätte sie ihren einzigen Freund ermordet, sich von der Welt abgeschnitten wie eine Nonne im Kloster – ach was: diese Nonnen hatten wenigstens ihre Gebete. Statt des Reparaturdienstes hätte sie aus lauter Unruhe und Verwirrung um ein Haar die Notrufzentrale gewählt, und als endlich jemand abhob, war sie dermaßen verzweifelt, daß der Fernsehtechniker schneller bei ihr war, als ein Krankenwagenfahrer gebraucht hätte, um sich auch nur die Jacke anzuziehen – leider erklärte er die Sache für hoffnungslos. Die Bildröhre sei hin, und sie solle am besten in ein Geschäft fahren und sich ein neues Gerät kaufen – dann nannte der Mann ihr ein halbes Dutzend japanischer Marken, und sie verlor gleich wieder die Beherrschung. Lieber wäre sie von Gott verflucht und ließe sich dreimal in der Hölle braten, ehe sie den Japsen irgendwas abkaufte, nach allem, was die ihrem Bruder im Krieg angetan hätten, und was sei er, der Fernsehtechniker, denn überhaupt für einer, ein Amerikaner oder was? Wußte er denn nicht, wie sie über uns lachten, diese Schlitzaugen? Er raste in seinem Lieferwagen davon, ohne sich umzusehen.
    Es war zehn Uhr. Willis war bei der Arbeit, das Wetter war beschissen, sie verpaßte die Serie »Hollywood Squares« und konnte ihrer Kränkung nicht einmal durch den Trost eines Einkaufsbummels abhelfen – jedenfalls nicht ehe Willis heimkam. Du liebe Güte, dieser Willis, was für ein Baby, dachte sie bei einer Tasse schwarzen, bitteren Espressos am Küchentisch. Er war eine totale Ruine gewesen, als sie ihn kennenlernte – seine vorige Frau hatte ihn ausgepreßt wie einen alten Lappen und dann zum Trocknen aufgehängt. Seine Kleider stanken, von früh bis spät war er betrunken, aus den letzten drei Jobs hatten sie ihn gefeuert, und sein Auto war praktisch ein Sarg auf Rädern gewesen. Sie hatte ein Projekt aus ihm gemacht. Hatte ihn gerettet, ihm ein Heim und saubere Unterwäsche und weiße Taschentücher geboten, und wenn er ihr hundertmal am Tag dafür dankte, wäre es noch nicht genug. Wenn sie die Zügel straff anzog, dann nur, weil das eben nötig war. Ließe sie ihm freie Bahn – auch nur eine Stunde lang –, er käme erst drei Tage später nach Hause, nach Gin und Erbrochenem stinkend.
    Das Haus war still wie ein Grab. Sie starrte zum Fenster hinaus; tiefhängende Wolken waberten übers Dach, langgezogen wie Würste, wie Gedärme, schwärzlich vor Blut und Galle. Es war vor Sturm gewarnt worden, soviel hatte sie in der Frühstücksshow noch gehört, und wieder spürte sie einen Stich der Reue wegen des Fernsehers. Gern wäre sie aufgestanden und hätte auf den Nachrichtenkanal geschaltet, aber es gab keine Nachrichten mehr – zumindest nicht für sie. Da war noch das Radio – und sie erinnerte sich mit Wehmut ihrer Kindheit und der Abende, an denen die ganze Familie um die große »Emerson«-Musiktruhe geschart saß und einer Sendung nach der anderen lauschte –, doch sie hatte schon lange kein Radio mehr gehört; es verursachte ihr Kopfweh. Und mit Willis im Haus, wer brauchte da noch mehr Kopfweh?
    Dann fiel ihr die Zeitung ein, und sie erhob sich mit einiger Überwindung vom Tisch, um im Wohnzimmer danach zu suchen – wenn etwas Ernstes im Anzug war, müßte es auf der Titelseite stehen. Sie sann darüber nach, konzentrierte sich auf die Suche nach der Zeitung und dachte gar nicht mehr an den Fernseher, so daß sein Anblick beim Betreten des Zimmers ihr einen Schock versetzte. Die Glasscherben hatte sie aufgefegt, gedrückt und gebrochen, doch nun klagte sie der geborstene Bildschirm von neuem an. Schuldbewußt durchwühlte sie den Stapel Zeitschriften und Magazine, der sich unter dem Beistelltisch türmte, dann stöberte sie im Schlafzimmer und ging schließlich hinaus, um im Vorgarten nachzusehen. Keine Zeitung. Ausgerechnet heute hatte Willis sie offenbar in die Arbeit mitgenommen. Und als sie in Morgenmantel und Pantoffeln auf dem stillen grauen Rasen stand, wurde sie plötzlich

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