Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
war, das lange weiße Haar hing ihr wirr über die Schultern, so daß sie aussah wie eine alte Waldhexe aus dem Märchen. Hinter ihr stand Anna Novak, einen tragischen Ausdruck zwischen den unbewegten Fältchen rund um ihre slawischen Augen. Muriel stand einfach da, starrte auf die Straße, wo er an der Tür seines Wagens verharrte, einen halben Herzschlag von der Erlösung entfernt.
    Der Wind erhob sich erneut und zerrte an den Ästen der übriggebliebenen Bäume. Ein paar Häuser weiter rief jemand einen Hund: »Hermie, Hermie! Hierher, komm!« Der Regen ließ etwas nach. »Willis!« rief Muriel plötzlich, »Willis«, und der Bann war gebrochen. Sie lief die Stufen hinunter, großartig und unbesiegbar, die Arme weit ausgebreitet.
    Was konnte er tun? Er stellte den Fuß auf den Asphalt, achtete nicht auf den Schmerz, der ihm dabei in die Hüfte fuhr, und öffnete die Arme, um sie aufzunehmen.

Zurück ins Eozän
    Abszisse, Ordinate, Karbon, Mesozoikum, Pythagoras, Krustazeen: die Wörter überfluten ihn in einem Schwall exhumierter Silben, der plötzliche scharfe Geruch nach Tafel und Kreide beschwört diese vergessene Sprache herauf. Es passiert jedesmal. Ein Blick auf die Fahrradständer vor dem Schulgebäude oder auf die Flagge, die am Ende der blinkenden Aluminiumstange munter knattert, und gleich überfluten ihn die Erinnerungen, ein Taifun von Gesichtern und Orten und Namen: Ilona Sharrow und Richie Davidson, Heddy Grieves, der Treck der Pioniere nach Oregon, das Mare Tranquillitatis und die drei längsten Flüsse Rußlands. Er nimmt seine Tochter an der Hand und schlurft in Richtung der hellerleuchteten Aula; schon jetzt muß er heftig schlucken.
    Drinnen ist es noch schlimmer. Im mattgelben Schein der Deckenleuchten durchfährt ihn die Erinnerung wie ein Messer. Sie steckt im harten Stahlrohr und den kissenlosen Brettern der Stühle, im Knistern des Lautsprechersystems und in der tristen Reihe glasierter Napfkuchen und Schokokekse, über denen eine dralle Matrone vom Elternverein wacht. Und diese Gerüche – Tannenduft-Putzmittel, Bohnerwachs, muffelnde Achselhöhlen und Schweißfüße, ein schwaches Restaroma von Hackbraten mit gelben Bohnen. Gelbe Bohnen : es muß Ewigkeiten her sein, daß er gelbe Bohnen gegessen, gelbe Bohnen im Mund gehabt hat – an die zwanzig Jahre? Der Gedanke übermannt ihn, und er bleibt einen Moment lang unschlüssig an der Tür stehen, dann spürt er einen Zug am Arm, und seine Tochter entschlüpft ihm, flitzt durch die Menge wie ein kleiner Vogel, zu ihren Freundinnen. Er sucht sich einen Sitzplatz ganz hinten.
    Die große, nüchterne Normaluhr steht auf fünf Minuten vor acht. Er überläßt sich dem unbarmherzigen Griff des Stuhls und läßt den Blick über die anderen Eltern schweifen, deren Gesichter ihm aus früheren Inkarnationen vage vertraut sind und die wie Roboter in den Gängen auf und ab schlurfen. Ringsum herrscht erwartungsvolles Stimmengebrabbel. Hohe Absätze klicken auf dem Linoleum. Stühle scharren. Er träumt eine Szene aus einer anderen Aula vor vielen Äonen – Nachsitzen, die öden Aufsätze und draußen vor den Fenstern lautes Rufen und der würzige, süße Duft des Frühlings in der Luft –, als Officer Rudman ans Mikrofon tritt.
    Stille legt sich über die Zuhörerschaft: der Wirbelsturm des Geschnatters wird zum lauen Wind, zum leisen Hauch, zu gar nichts. Seine Tochter, zehn Jahre alt und wunderschön, mit zu großen Füßen und krummen Schultern, kommt durch den Gang stolziert und läßt sich auf den Stuhl neben ihm fallen, als wären ihr die Beine weggeschossen worden. »Dad«, flüstert sie, »das da ist Officer Rudman.«
    Er nickt. Wer sonst sollte es wohl sein, der da oben in vollem Wichs aufmarschiert, mit seiner Bürstenfrisur und der maßgeschneiderten Uniform? Mit diesem sonnigen Lächeln und der Gewichtheberstatur? Wer sonst, wenn nicht Officer Rudman, der Koordinator des Antidrogenprogramms der Schule und Schwarm aller Mädchen in der fünften?
    Eine Frau mit gestärkter Dauerwelle und nachmodellierten Hüften huscht verspätet herein und läßt sich geräuschlos auf dem Platz vor ihm nieder. »Guten Abend«, sagt Officer Rudman, »ich bin Officer Rudman.« Jemand hustet. In den Lautsprechern pfeift ein Feedback.
    Im nächsten Augenblick erhebt sich alles schwerfällig in einer scharrenden, stampfenden, schneuzenden Kakophonie, denn nun stimmt Officer Rudman den Fahneneid an. Die Hand aufs Herz gelegt, ein Gemurmel aus halberinnerten

Weitere Kostenlose Bücher