Fleischeslust - Erzaehlungen
stand fest. Als er einen Rasenmäher umrundete, der verloren mitten auf der Straße lag, und die weite geschwungene Kurve nahm, von der aus er sein Haus sehen konnte, rechnete er mit dem Schlimmsten – abgerissene Fensterläden, ein Loch im Dach, die Ulme quer über der Garage liegend wie ein verstümmeltes Tier –, doch die Wirklichkeit ließ ihm das Herz stillstehen.
Es war nichts mehr da. Nichts. Wo keine zwei Stunden zuvor das Haus gestanden hatte, die hohe Ulme und die Doppelgarage mit seiner Werkbank, seinen Werkzeugen und allem anderen, war nur mehr ein leerer Fleck. Das Grundstück war kahlgefegt bis auf die abgebrochenen, schartigen Reste des Fundaments, mit Gerümpel übersät, wie eine antike Ruine. Panik ergriff ihn, ein Schock, und er trat instinktiv auf die Bremse, so daß der Wagen ins Schleudern geriet, quer über die Straße rutschte und mit einem Ruck gegen den Bordstein krachte.
Schlotternd löste er die Finger vom Lenkrad. Über dem rechten Auge spürte er einen pulsierenden Schmerz, wo er gegen den Rückspiegel geprallt war. Seine Hände zitterten. Nein, dachte er und blickte wieder auf, das konnte doch nicht wahr sein. Er war in der falschen Straße, das mußte es sein – er war falsch abgebogen und stand jetzt vor dem Grundstück von jemand anderem. Er brauchte einen Moment, doch dann stieß er die Tür auf und stieg vorsichtig aus, auf die trümmerübersäte Straße, und da war die Zahl am Bordstein, die ihn widerlegte, dort der Briefkasten mit seinem Namen darauf in sauberen weißen Blockbuchstaben, unberührt, das rote Fähnchen fröhlich aufgerichtet. Und nebenan stand das Haus der Novaks, kein Zweifel, dieses widerliche Lindgrün mit den rosa Einfassungen...
Dann dachte er an Muriel. Muriel. Sie war, sie war... er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken und stolperte über den Rasen wie ein Betrunkener, um dann benommen in das gräßliche Loch in der Erde zu starren. »Muriel«, schrie er, »Muriel!« Der Regen hämmerte auf ihn nieder.
Lange Zeit stand er so da, den Kopf gesenkt, fühlte sich so alt wie die Steine, so alt wie die aufgerissene Erde und der tote graue Himmel. Und dann, das Auto hinter ihm bullerte und spotzte noch, kam ihm die erste Ahnung eines Gedankens, der funkensprühend größer wurde, bis er wie eine Fackel in seinem Kopf brannte: Scotch mit Wasser . Er sah sich selbst, wie er gewesen war, als Muriel auf ihn stieß: wie für immer verschmolzen mit dem vinylbezogenen Barhocker des Dew Drop Inn, und seine Lippen bildeten unwillkürlich wieder die Worte: »Für mich einen Scotch mit Wasser.« Das Haus war weg, aber er hatte schon öfter Häuser verloren – meistens an Ehefrauen, die ja sowieso eine Art Naturkatastrophe waren; damit konnte er leben –, und er hatte auch Ehefrauen verloren, allerdings niemals so.
Jetzt traf es ihn, eine Welle des Kummers, die in seiner Hüfte anfing und in seine Kehle hinaufbrandete: Muriel. Er sah sie lebhaft vor sich, die mittägliche Muriel, die ihm die Schultern massierte und um ihn herumwuselte, ihm diese kleinen Crackers mit Sardellenpaste und Avocadocreme machte... er sah sie, wie sie abends die Bettdecke zurückschlug, sah sie stirnrunzelnd über einem Kreuzworträtsel sitzen, die Brille auf der Nasenspitze festgeklemmt – kleine Dinge, traute Dinge. Er spürte einen Stich, als er sich daran erinnerte, wie sie ihn wegen einer Fernsehsendung oder einem Footballspiel aufgezogen hatte und wie sie in der Küche herumgetanzt war, in der Hand eine Flasche Wein oder ein Stück mit Knoblauchzehen gespickter Rinderbrust... und nun sollte das vorbei sein. Er war fünfundsiebzig – sechsundsiebzig im Oktober –, und er starrte in die Grube, spürte den eisigen Hauch der Ewigkeit im Gesicht.
Seine Jacke war klatschnaß, und die Arme hingen ihm schlaff herab, als er sich endlich abwandte und über den matschigen Rasen davonhinkte, ein Soldat, der aus dem Krieg heimkehrte. Er schleppte sich über die Straße zum Auto, konnte an nichts anderes denken als an Ted Casselman, den Barkeeper vom Dew Drop – der würde wissen, was zu tun war –, und er hatte schon die Tür geöffnet, einen Fuß auf dem Trittbrett, als er sich für einen letzten verwirrten Blick umdrehte und eine Bewegung auf Novaks Veranda seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Plötzlich ging dort die Windfangtür auf, ein mattes Licht drang heraus, und da war sie, Muriel, der Vergessenheit entrissen. Sie trug immer noch ihren Morgenmantel, der jetzt naß und zerknittert
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