Fleischeslust - Erzaehlungen
Worten. Er registriert die Stimme seiner Tochter neben sich, und seine eigene auch, und nun wendet er sich ihr zu, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Ihre Miene ist gelassen, fröhlich, hoffnungsfroh, ihre Züge rekapitulieren und verfeinern das Gesicht ihrer Mutter, und plötzlich wird ihm alles zuviel, und er muß den Blick auf seine Schuhe senken: »... und Freiheit und Gerechtigkeit für alle.« Erneutes Husten. Stühleknarren. Alle setzen sich.
Officer Rudman wirft einen bedächtigen, prüfenden Blick in die Menge, dann hebt er an: »Drogen sind eine Gefahr«, sagt er, »das wissen wir alle«, und macht eine Pause, während die Direktorin, eine Frau mit dicken Knöcheln, flattrigem Haar und verbissenem Blick, seine Worte stockend ins Spanische übersetzt: »Las drogas son peligrosas.« Da sitzt er hinten in der Aula, seine Tochter neben sich, den Geschmack der gelben Bohnen im Mund, gebeutelt von Weltschmerz und Nostalgie.
Eozän: geologische Epoche (Formation: Tertiär; Zeitalter: Neozoikum), in der die Säugetiere die beherrschende Rolle auf dem Planeten übernahmen.
Je romps, tu romps, il rompt, nous rompons, vous rompez, ils rompent.
Als er in der Grundschule war, gab es keine Drogen, weder Crack noch Koks, weder Ice noch Heroin und als Draufgabe noch Aids. Nicht in der Grundschule. Nicht in den Fünfzigern. Da gab’s nicht mal Gras.
Mary Jane hieß es in den Lehrfilmen in der High-School, aber so nannte es keiner. Jedenfalls nicht auf diesem Planeten. Es hieß einfach Gras, schlicht und einfach, und er hatte es geraucht wie alle anderen. Er erinnert sich an seinen ersten Joint, mit siebzehn, in einem Haus in der Broome Street, Löcher in den Mauern, überall leere Flaschen, Ratten, Vorhängeschlösser an den Türen, ein Zug, und man ist süchtig, da winkt Officer Rudman einen mageren dunkelhaarigen Jungen ans Mikrofon. Kräftige, erwachsene Hände packen den Mikroständer und stellen ihn ein Stück tiefer. Der Junge reckt sich, bis seine Knöchel aus den Basketballschuhen hinausragen, er greift nach dem Mikro und rezitiert mit piepsiger, tonloser Stimme sein Gelöbnis, sich von Drogen fernzuhalten: »Ich heiße Steven Taylor und habe ein recht gutes Selbstwertgefühl«, sagt er, und seine laut verstärkten Atemgeräusche pfeifen durch die Pausen, »und ich gelobe hiermit, niemals Drogen zu nehmen oder schädliche Substanzen in meinen Körper zu lassen. Falls mich jemand fragt, ob ich Drogen nehmen will, dann sage ich einfach nein – ich kehre den Rücken, wechsle das Thema, gehe weg oder sage einfach nein.«
Gehirnwäsche war Lindas Wort dafür gewesen, als er ihr am Telefon die Verabredung für diesen Abend abgesagt hatte. Sie konnte leicht reden, sie hatte keine Tochter, sie war völlig ahnungslos, konnte sich nicht vorstellen, wie es war, wenn das Sicherheitsnetz unter einem immer weiter weg wich, hoch über dem steilen, felsigen Abgrund. Hat es dir was gebracht? fragte sie. Oder mir? Sie hatte ja recht. Haschisch, Gras, LSD, Kokain, Heroin. Er hatte die Warnungen alle gehört, die Filme alle gesehen, aber wieso sollte er jemand anders glauben? War das überhaupt möglich? Auch in der Fahrschule hatte er sich die ernüchternden Statistiken, die abschreckenden Filme angesehen, und dann war er im Ford seiner Mutter losgedonnert und über den Highway gerast. Scotch, Gin, Whiskey, billiger Rotwein, Obstschnaps, Starkbier, Seconal, Valium, Mandrax. Gehört hatte er die Warnungen, ja, aber als es soweit war, hatte er sich die Nadel in den Arm gejagt und den Kolben zurückgezogen, um zuzusehen, wie die klare Lösung von seinem eigenen lodernden Blut getrübt wurde. Hast du heute deine Vitamine schon geschluckt?
»Ich heiße Lucy Fadel, und ich gelobe hiermit, niemals Drogen, Alkohol oder Nikotin zu mir zu nehmen, denn ich mag mich und die Welt und meine Schule, und ich werde allein schon vom Leben high.«
»Ich heiße Roberto Campos, und ich will nicht an Drogen sterben. Wir Jugendlichen nehmen Drogen nur aus Gruppendruck, und ich werde ganz einfach nein dazu sagen, ich werde kurzerhand weggehen und das Thema wechseln.«
»Voy a decir no –«
Officer Rudman stellt sich das Mikrofon wieder höher und verschränkt die Hände. Die Eltern beugen sich vor. Er fixiert sie. »Sie alle haben nun die Gelöbnisse dieser Fünftkläßler gehört«, sagt er, »und sie meinen es ernst. Ich bin stolz auf sie. Spenden Sie ihnen ordentlich Beifall.«
Und da ist er, der donnernde Beifall all dieser Eltern in
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