Fleischeslust - Erzaehlungen
ihren Anzügen, Sportjacken und Röcken, mit steifer, entschiedener, zorniger Miene klatschen sie erleichtert in die Hände, als würde das genügen, als könnte die Kraft ihrer Akklamation die Gangs von den Straßen vertreiben oder jene unsagbar verführerische Frage für nichtig erklären, auf die »Nein« nie eine Antwort ist. Er klatscht mit ihnen, einen Seitenblick auf seine Tochter wagt er nicht, und stellt sich dabei den ersten Jungen vor, den dünnen, dunklen, wie er mit Handschellen an der Wand steht, tot auf der Straße liegt, in irgendeinem Obdachlosenasyl dahindämmert. Und das kleine Mädchen als Mutter von vier Kindern, zweimal geschieden, den Schädel voller Martinis und Schlankmacherpillen, das Lenkrad ihres Jeep Cherokee wie eine Waffe in der Hand. Denn darauf lief es ja hinaus: das war mit den Warnungen gemeint. Der Agon, die Agape, Ulysses S. Grant, Parthenogenese, die Monitor und die Merrimac , denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Seine Tochter nimmt seine Hand. »Jetzt kommt ein Film«, flüstert sie.
Was war nur aus dem Fingermalen geworden, aus den Herzchen zum Valentinstag und den Osterhasen? Fünfte Klasse, das darf doch nicht wahr sein! Wo waren sie geblieben, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Lassie und die Schatzinsel ? Was war passiert? Wer hatte schuld? Wo lag der Fehler?
Er will gerade die Hand heben und von Officer Rudman eine Antwort verlangen, denn inzwischen stößt ihm die Nostalgie sauer auf, da erlöschen die Lichter, und der Film fängt an. Ein Flackern auf der Leinwand, dann Gitter, eine Gefängniszelle. Er sieht einen Junkie, der sich windet und brüllt, einen dämonischen Kerl mit tiefliegenden Augen, der seinen Kopf gegen die Wand knallt, irgendwer, irgendwo, blitzende Lichter, Polizei, Handschellen, wieder Gebrüll. Ein Joint, und du bist drauf: wie hatten sie darüber gekichert, er und Tony Gaetti, und dann hatten sie wieder gekichert, als ihnen klar wurde, daß es stimmte, während sie das Dope in einem Flaschendeckel aufkochten, ein paar geklaute Einwegspritzen in der Hand, und sich auf dem Klo im Zug ihren Kick holten, von dem Gefühl erfüllt, sie hätten’s der ganzen Welt so richtig gezeigt. Damals war alles anders. Es war lange her.
Cromagnon, Neandertaler, Homo erectus: die Hand seiner Tochter zermalmt ihn, wie sie brav und kühl in seiner liegt wie ein abgerissenes Hochhaus, ein Betonmischer-LKW, eine Endmoräne. Auf der Leinwand sind die Junkies jetzt weg, dafür sieht man einen sonnenhellen Schulhof und einen Klon von Officer Rudman, jetzt folgt ein wenig Statistik: kritisch, aber hoffnungsvoll. Muntere Musik, lächelnde Gesichter, Kinder, die »einfach nein sagen«.
Als es vorbei ist, sitzt er da wie betäubt, das aufflammende Licht nagelt ihn fest wie der Scheinwerfer ein Tier auf nächtlicher Straße. Er will nur noch raus hier, keine Fragen, keine Streiche der Erinnerung mehr, weg von Officer Rudman und den stumpfen Blicken der anderen Eltern. »Schätzchen«, flüstert er und beugt das Gesicht dicht zu ihr hinab, »wir müssen jetzt gehen.« Officer Rudman reckt das Kinn, hält die Arme vor der Brust verschränkt. »Noch Fragen?« will er wissen.
»Aber Dad, der Kuchenbasar.«
Der Kuchenbasar.
»Den müssen wir diesmal verpassen«, flüstert er, und plötzlich ist er auf den Beinen, zieht die Schultern ein, wie es Leute tun, die vorzeitig aus Versammlungen verschwinden oder zu spät ins Konzert oder ins Theater kommen, eine Geste der Unterwerfung und Entschuldigung. Seine Tochter sitzt noch – sie will dableiben, Kuchen essen, ihre Freundinnen treffen –, aber er zieht sie an der Hand, und sie kämpfen sich im Spießrutenlauf durch die betreten dreinblickenden Eltern bei der Tür und hinaus in die Nacht. »Dad!« ruft sie und zerrt ebenfalls an ihm, und erst jetzt wird ihm klar, daß er ihr weh tut, denn er umklammert ihre Hand wie ein Rettungsseil in gefährlicher Brandung.
»Sag mal, spinnst du oder was?« schimpft sie, und er läßt ihre Hand los.
»Tut mir leid. Hab nicht nachgedacht.«
Die Fahne flattert nicht mehr, hängt schlaff am Mast herab. Er starrt zu den Sternen hinauf, die in ihren Bahnen fixiert sind, kalt und fern, und dann knirscht der Kies unter ihren Füßen, und sie sind auf dem Parkplatz. »Ich wollte doch nur ein Stück Kuchen«, sagt seine Tochter.
Im Auto, auf der Heimfahrt zum Haus ihrer Mutter, sieht sie mürrisch aus dem Fenster, um ihn die Last ihrer Enttäuschung spüren zu lassen, aber sie hält es nicht durch.
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