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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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hinunter, und nach dem ersten Schluck war egal, was es war. Als die Flasche leer war, zog der junge Kerl eine zweite hervor, und obwohl er zuvor hungrig gewesen war, obwohl er nichts gegessen hatte außer dem Eiersalat-Sandwich und dem Apfel, die ihm sein Sohn im Bahnhof von Boston gegeben hatte, verflog der Hunger, und im Lauf des Abends fühlte er sich immer besser. Er erzählte dem jungen Mann gerade von Pemmikan – daß es das energiereichste Nahrungsmittel sei, das der Mensch je hervorgebracht hatte, und wie viele Kalorien täglich man bei minus sechzig Grad zu sich nehmen mußte, einfach um nur am Leben zu bleiben, als er sich auf einmal so klar fühlte wie nie zuvor. So plötzlich, daß er beinahe daran erstickte. Das war nicht der junge Mann von der Geographischen Gesellschaft, ganz und gar nicht. Er hatte den gleichen dünnen, jugendlichen Bart, die großen blauen Augen und die zarte, schlechte Haut, aber die Nase war anders, und um den Mund lag dieser harte, gemeine Zug. Und seine Kleider – sie hingen in Fetzen, waren durchtränkt von uraltem Fett und Unrat und stanken zum Himmel, ein widerlicher Menschengestank, der bis zu ihm reichte. »Das hier ist nicht Washington«, stellte der alte Mann fest und begriff in diesem Moment, daß er falsch ausgestiegen war, daß er in einer völlig anderen Stadt war, an einem Ort, den er nicht kannte, daß er sich verirrt hatte. »Das stimmt doch?«
    Der junge Mann, dessen Gesicht vom Alkohol glänzte, fuchtelte mit seinen schmächtigen Armen in der Luft herum, heulte auf vor irrwitzigem Vergnügen, trat gegen die ringsherum aufgestapelten Zeitungen und mußte sich schließlich den Bauch halten, um seinen Lachanfall zu bremsen. Er lachte, bis er zu husten begann, und er hustete, bis er etwas auswürgte, das er auf den Fußboden spuckte. »Du bist voll hinüber, Bird«, sagte er und zog jedes Wort in die Länge, dann packte ihn wieder das Gelächter. »Du bist ja echt voll hinüber.«
    Also: er hatte sich verirrt. Das war ihm schon früher passiert, mindestens zwei- oder dreimal. Ein Streich des Verstandes, sonst nichts, ein kleiner Irrtum – beim falschen Bahnhof ausgestiegen, nach rechts statt nach links gegangen –, und schon wurde die Welt zu einem fremden, rätselhaften Ort, zu einem Gebiet, das es zu erforschen galt. Er hatte nichts dagegen. Sie würden ihn schon finden, Leverett und seine Frau, wirklich ein nettes Mädchen, und die Enkelkinder, sie würden ihn finden. Doch dann bohrte sich ein kleiner Keil der Unruhe in die Bruchlinien seiner Psyche und wurde rasch zur Besorgnis. Wer war dieser Mann, wenn er nicht von der Geographischen Gesellschaft war, und was wollte er? Und wo waren sie eigentlich? Zeitungen. Stapel davon, Berge, ein ganzer Kontinent, überall Zeitungen.
    Er nahm die Flasche, als sie wieder gereicht wurde, trank einen Schluck und gab sie weiter, und jetzt war da ein drittes Mitglied in ihrer Runde, eine weitere Hand zwischen ihm und dem jungen Mann, der nicht von der Geographischen Gesellschaft war. Buschiger Bart, eine Nase wie ein Raubvogel, Augen wie in den Schädel eingebrannt, und er kannte ihn nicht, überhaupt nicht, aber warum kam er ihm so vertraut vor? Er spürte sich gleiten. Es war kalt, teuflisch kalt für Oktober, oder? »Früher Winter dieses Jahr«, murmelte er, aber niemand antwortete ihm.
    Das nächste, was ihm auffiel, war die Kerze. Er mußte eingedöst sein. Aber da war sie, die Kerze. Ein Licht in der Wildnis. Die Flasche kam wieder zu ihm, und der matte Kerzenschein erhellte plötzlich das Gesicht des neuen Mannes, und er kannte ihn doch, kannte ihn so gut wie den eigenen Sohn und den eigenen Vater. »Sie«, sprach er aus der Leere hinaus, »ich kenne Sie.«
    Er hörte ein leises Keckern, kantiges Gelächter, ein Rinnsal aus zwei verwüsteten Kehlen. »Jaa, wir kennen dich auch, Bird the Third, alter Vogel«, sagte der junge Mann, und seine Stimme und sein Tonfall hatten sich verändert. Jetzt hörte er sich an wie ein gemeiner Schuljunge.
    »Nein«, beharrte der alte Mann, »nicht Sie... ich meine« – er blickte dem Neuankömmling direkt ins Gesicht –, »ich meine Sie.« Die Inspiration war in seinem Kopf aufgeflackert, und er erkannte den Mann wieder, nach all den Jahren: ein großer Mann, seinem Vater beinahe ebenbürtig, der einzige andere Mensch auf der Welt, der Nord- und Südpol betreten hatte und lebend zurückgekehrt war. »Sie sind Roald Amundsen.«
    Das Lachen war böse, fast ein Bellen. Der Mann bleckte

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