Fleischessünde (German Edition)
hier allein herumzulaufen. Soll ich Sie nicht lieber in eine etwas belebtere Ecke fahren?“
Toll. Von allen Taxifahrern in Toronto hatte sie ausgerechnet den mit dem totalen Vaterkomplex erwischt.
Eine Tochter in Ihrem Alter. Calliope hatte ihre Zweifel, aber auch keine Lust, diese Frage auszudiskutieren. Sie wollte hier aussteigen und so schnell wie möglich dorthin zurück, wo sie losgefahren waren. Wenn sie jetzt jedoch anfing, mit dem Mann zu diskutieren, würde er sie nur umso besser in Erinnerung behalten, und darauf legte sie erst recht keinen Wert. Es war wichtig, so unauffällig wie möglich zu bleiben.
Sie überlegte einen Augenblick, dann gab sie dem Fahrer die Adresse eines bekannten Restaurants, von dem sie wusste, dass es nur ein paar Blocks von Kuznetsovs Wohnung entfernt lag.
Sie lehnte sich zurück und holte ihr Handy aus der Tasche. Sie wusste, dass sie gleich einen Anruf bekommen würde. Sie wusste sogar, wer die Anruferin sein würde. Keine zehn Sekunden später ertönte der Klingelton.
„Hast du es gefunden?“, fragte Calliope, bevor die Stimme am anderen Ende etwas sagen konnte.
„Kannst du damit nicht mal aufhören? Du machst mich jedes Mal ganz irre mit deinen Vorahnungen“, beschwerte sich Roxy Tam.
Calliope lächelte milde. „Wir kennen uns jetzt zehn Jahre. Du solltest dich allmählich daran gewöhnt haben.“
„Ja, sollte ich wahrscheinlich“, räumte Roxy ein. „Hab ich aber nicht. Um deine Frage zu beantworten: Ich habe es gefunden. Ich schick’ es dir. Aber schau es dir nicht gerade beim Essen an. Ziemlich unappetitlich.“
Sie meinte den Videoclip, der vor kurzer Zeit bei YouTubeaufgetaucht und inzwischen gelöscht worden war. Der Grund dafür war die barbarische Grausamkeit der Szene. Das Video zeigte, wie einem Mann bei lebendigem Leib die Brusthaut abgezogen wurde.
„Danke für deine Mühe“, sagte Calliope.
Dieser Satz wäre bei ähnlicher Gelegenheit noch vor drei Wochen nicht gefallen. Da war es nämlich schlicht Roxys Job gewesen zu tun, was Calliope verlangte. Aber in der Zwischenzeit hatte Roxy die Isisgarde verlassen, in der sie Calliope unterstellt gewesen war. Dass jemand einfach so die Garde verlassen konnte, war keineswegs die Regel. Aber Roxy hatte nur einen untergeordneten Rang bekleidet und keinen Zugang zu sensiblen Informationen gehabt. Außerdem hatte Calliope bei der Wahrheit ein ganz klein wenig nachgeholfen. Sollte das eines Tages ans Licht kommen, musste sie sich dafür bei den Oberen der Garde, bei den Matriarchinnen, verantworten.
Roxy lachte. „Nur keinen Dank. Ich schicke dir eine Rechnung.“
„Vermutlich eine gesalzene. Ich ahne es schon. Hast du es … ihm gezeigt?“
Gemeint war Dagan Krayl, mit dem Roxy jetzt zusammen war. Dagan war Seelensammler und Sohn Sutekhs, somit ein erklärter Feind von Calliope und allen Isistöchtern, was die Situation reichlich komplizierte.
„Ich hab es ihm nicht gezeigt“, antwortete Roxy, „ich habe es von ihm bekommen.“
Calliope ließ sich ihr Erstaunen nicht anmerken. „Wusste er, dass du es an mich weitergeben würdest?“, fragte sie beiläufig.
„Ja.“ Roxy verstummte für einen Moment. „Er meint, es könne nicht schaden, wenn sich noch andere das ansehen. Vier Augen sehen mehr als zwei – so ungefähr. Er will die Mörder seines Bruders finden. Koste es, was es wolle.“
„Obwohl er weiß, dass wir die entgegengesetzten Ziele verfolgen?“ Während Sutekhs Söhne alles daransetzten, Lokan wiederzurück ins Leben zu holen, lautete ihr Auftrag, dafür zu sorgen, dass der tote Reaper tot blieb. Wäre Roxy in der Garde geblieben, hätte sie diesem Konflikt nicht ausweichen können. „Unterstützt du ihn?“ Calliopes Frage klang trotz der Brisanz, die darin lag, ganz arglos und nüchtern.
Roxys Lachen hingegen wirkte etwas befangen. „Er und ich sind uns in vielem einig, das weißt du ja. Aber in diesem Punkt nicht. Wenn Lokan Krayl wieder zurückkehrt, wird er seine Mörder benennen, und Sutekh wird seine Truppen losschicken, um blutige Rache zu nehmen. Das wird einen Krieg entfesseln, der seine Kreise zieht und auch auf die Oberwelt und die Sterblichen übergreift, ein apokalyptisches Gemetzel. Nun sagt Dagan aber, egal auf welche Weise bekannt wird, wer die Mörder sind, gibt es das sowieso. Das kann ihn also nicht davon abhalten, seinen Bruder zurück ins Leben zu holen.“
„So einfach geht das ja nicht“, meinte Calliope. Sie warf einen kurzen Blick auf den
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