Fleischessünde (German Edition)
einzige Niemandsland ist. Keiner hat so einen gottverlassenen Ort auf der Rechnung, und deshalb schien es mir der ideale Platz zu sein, um Lokans Leichnam zu verstecken.“
„Ich verstehe nur nicht, warum sieben Teile von ihm hier drinnen sind. Ich hätte angenommen, seine Teile seien über die ganze Erde zerstreut. Es kommt mir vor, als hätte außer uns noch jemand nach Lokan gesucht und seine Einzelteile an einem Fleck gesammelt.“ Malthus legte die Hand auf den Deckel des Kastens, als könnte er durch diese Berührung eine Antwort bekommen.
„Jemand, der bei seiner Suche sehr viel erfolgreicher war als wir“, ergänzte Alastor.
Hier schaltete Dagan sich ein, der die ganze Zeit nachdenklich geschwiegen und den Kasten betrachtet hatte. „Und wersagt, dass Lokans Leichenteile überallhin verstreut gewesen sein sollen? Woher nehmen wir das?“
Ratlos sahen sie einander an.
„Keine Ahnung“, meinte Malthus.
„Vielleicht sollten wir uns darum mal Gedanken machen“, schlug Alastor vor.
Malthus schloss die Augen, die Hand immer noch auf der bleiernen Kiste. Er rief die Erinnerung an seinen ermordeten Bruder in sich wach. Verdammt, er vermisste ihn. Er wünschte sich ihn zurück. Beinahe erwartete er, dass ihm jemand auf die Schulter tippte, er sich umdrehte, und Lokan würde vor ihm stehen und sich über ihn kaputtlachen.
Etwas rührte sich unter seiner Handfläche. Er spürte einen schwachen Impuls. Es war wie ein kleines, flackerndes Licht in einem Meer von tintenschwarzer Finsternis. Malthus konzentrierte sich mit aller Macht darauf, versuchte die Quelle des kaum merklichen Energiestroms zu orten, um eine Verbindung zu seinem toten Bruder herzustellen. Ganz gleich, wo sie sich befanden, standen die Krayl-Brüder immer miteinander in Verbindung, spürten, wenn einer in Gefahr war oder Schmerzen litt. Sie hatten alle drei, Malthus, Alastor und Dagan, mit Lokan gelitten, als er gestorben war. Aber dann war die Verbindung zu ihm abgerissen und hatte nichts hinterlassen als ein brennendes Verlangen, Rache zu nehmen.
Malthus sammelte seine Kräfte, um Lokan zu erreichen, doch der Funken glomm nur noch einmal auf und erlosch. Wie zuvor stand er mit leeren Händen da, als ob nichts gewesen wäre. Möglich, dass es nur sein Wunschdenken gewesen war, das ihm ein Signal vorgegaukelt hatte. Er blickte auf Alastor und Dagan.
Wir werden ihn nicht mehr finden. Wir schaffen es nicht, ihn zurückzubringen, ging es ihm durch den Kopf, und er war nahe daran, es laut auszusprechen, damit sie endlich um ihren Bruder trauern konnten und eine Chance bekamen, über den unbeschreiblich schmerzhaften Verlust hinwegzukommen. Aber erwusste, dass die beiden noch daran glaubten, und wollte ihnen den Rest an Hoffnung nicht nehmen. Und so schwieg er.
Indem er die Hand wegzog, streifte er mit den Fingerkuppen noch einmal die eingravierten Symbole. War es nicht möglich, dass sich in ihnen der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels verbarg? Es müsste doch herauszufinden sein. Genauso wie er den Gedanken nicht loswurde, diesen Kasten wiederzuerkennen oder etwas Ähnliches schon einmal gesehen zu haben – irgendwo …
Malthus schüttelte den Kopf. Es wollte ihm nicht einfallen. Vielleicht war das auch nur eine seiner neuesten Macken, und er bildete es sich bloß ein. So wie er sich einbildete, Calliope Kane vorher schon einmal getroffen zu haben.
Aber gerade an sie wollte er in diesem Moment nicht denken. Er war sauer auf sie. Zugegeben, er fand sie attraktiv. Ständig geisterte sie ihm im Kopf herum, und er brauchte nur an sie zu denken, um scharf zu werden wie eine Rasierklinge. Er konnte sich solche Anwandlungen nicht leisten. Es wurde Zeit, dass er sich diesen Unsinn aus dem Kopf schlug.
„Irgendetwas müssen wir übersehen haben“, sagte er.
„Genau“, pflichtete Dagan ihm bei. „Und wir sollten es herausfinden, bevor uns die Zeit davonläuft.“
Sie öffneten den Deckel und untersuchten den Inhalt der Bleikiste. Dagan und Alastor erhofften sich doch noch einen Hinweis. Für Malthus war der Anblick der unvollständigen Teile von Lokans zerstückelter Leiche nur der Beleg dafür, dass ihr Bruder für sie verloren war.
Hoffnung. Die hatte Malthus aufgegeben. Früher hatte er sich darauf eingelassen. Fast zehn Jahre lang hatte er von der Hoffnung gelebt, damals, als er noch geglaubt hatte, ein Sterblicher zu sein und ein Recht auf ein bisschen Glück zu haben. Zehn Jahre lang hatte er Elena gesucht, bis er
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