Flieg, Hitler, flieg!: Roman
auf dem Broadway aufgestellt hat. Riesig. Hunderte von Fuß lang. Ich kam von meinem ersten Semester in Yale zurück, und niemand sprach von etwas anderem. Wenn man die Leute über die Tatsache in Aufregung versetzen kann, dass man ihnen Kaugummi verkauft – das ist schon etwas. Gäbe es im Büro des Bürgermeisters auch nur einen Mann mit derart genialen Ideen, wäre es das Ende aller Slums in New York.«
Pearl dozierte weiter über die Lichter, aber im Raum selbst hatte er immer noch keine weiteren eingeschaltet. Sinner, der das Interesse verloren hatte, war vom Schreibtsich aufgestanden und zu dem offenen Fenster des Arbeitszimmers gewandert, vor dem eine Feuertreppe aus schwarzem Eisen an der Rückwand des Hauses in die Höhe kroch wie ein Insekt. An ihrem Fuß drängten sich Mülltonnen dicht an dicht, wie ein Gelege Eier. Neben Pearls Schreibtisch stieß er sich beinahe den Zeh an einem großen Karton voller gelber Formulare. Er beugte sich hinunter, um sie zu inspizieren. Sie waren alle identisch und leer, ein Spottbild der Nutzlosigkeit.
»Was ist das?«, fragte er.
»Eines meiner Projekte aus der Zeit, als ich für die Planungskommission des öffentlichen Dienstes gearbeitet habe«, sagte Pearl. »Ein Misserfolg. Ich habe ihnen eine rein auf Verdienst basierende Hierarchie vorgeschlagen, aber natürlich wollte das niemand. Verstehen Sie diesen Ausdruck?«
Sinner zuckte mit den Schultern.
»Mit diesen Formularen sollten die Leute eingestuft werden«, fuhr Pearl fort. »Ich habe ein Jahr damit verbracht, die Verantwortung und die Funktionen eines jeden Arbeitsplatzes in der Verwaltung von New York zu katalogisieren. Dann habe ich jeder Verantwortung und Funktion eine mathematische Größe entsprechend ihrer relativen Wichtigkeit zugeordnet. Daraufhin wurden diese Formulare verteilt, um genau einschätzen zu können, wie gut jeder Einzelne seine Verantwortung und Funktion ausübt und wie die Persönlichkeit, die Moral, das Potenzial und so weiter dieser Personen zu bewerten sind. Einmal im Besitz dieser Daten, hätten wir genau bestimmen können, wer gebraucht wird und wer nicht, wer zu wenig bezahlt bekommt und wer zu viel, ohne auf den ›menschlichen Faktor‹ zurückgreifen zu müssen. Aber das Projekt ist nie vom Stadtrat genehmigt worden. Sie hatten kein Interesse an einer Veränderung. Jetzt sind die Formulare Makulatur und werden benutzt, um Tipps für Pferderennen weiterzugeben.«
Während Pearl mit dem Sprechen fortfuhr – offensichtlich hörte er sich selbst gerne sprechen –, erinnerte er Sinner mehr und mehr an jemanden, den er einmal getroffen hatte, und nachdem er eine Minute überlegt hatte, wusste er auch, wer es war: dieser feine Pinkel, der ihm vom Premierland ins Caravan gefolgt war, dieser Arsch, der nicht müde wurde zu betonen, wie »ungewöhnlich« Sinner war. Und in diesem Augenblick des Erinnerns überfiel Sinner eine unerklärliche Wut, und er begann, die gelben Formulare zu packen und aus dem offenen Fenster zu werfen. Sie flatterten davon wie welke Blätter. »Ärsche!«, schrie er. »Ihr seid alle Ärsche!«
»Was zum Teufel machen Sie da?«, rief Pearl aus und griff nach Sinners Schultern. Sinner drehte sich um, schlug Pearl ins Gesicht, biss ihm in die Schulter, biss ihm in den Hals, biss seinen Mund. Pearl zog Sinner vom Fenster weg, und sie fielen beide auf die Knie. Pearl stöhnte bereits und begann, Sinners Gürtel zu öffnen.
Und dann hämmerte unten jemand an die Haustür.
»Ich weiß, dass du hier bist, Sinner!«, rief Kölmel. »Komm raus! Ich weiß, dass du hier bist, verdammt! Und, äh, wenn nicht, möchte ich mich in aller Höflichkeit entschuldigen, Mr. Pearl.«
»Scheiße!«, sagte Sinner. Er stand auf, schnappte sich seine eigene Flasche Bourbon, trat dem immer noch knienden Pearl ins Gesicht und kletterte aus dem Fenster auf die Feuertreppe, die mit den gelben Formularen übersät war. Die Nacht war warm, und als er auf New York hinaussah, fühlte er sich wie eine Ameise, die über eine Filmleinwand kriecht. Als er die scheppernden Eisenstufen hinunterstürzte, wäre er beinahe gestolpert und in die Tiefe gefallen – eine Woche der Abstinenz und das beständige Training hatten ihn heute Abend noch schneller betrunken werden lassen, als er es ohnehin vorgehabt hatte. Er sprang neben den Mülltonnen auf den Bürgersteig und sah sich um. Von einer streunenden Katze abgesehen, war die Straße leer. Er wollte am liebsten wieder in das Leuchten
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