Flieg, Hitler, flieg!: Roman
eintauchen, aber der Times Square war weit weg. An der Ecke gegenüber entdeckte er ein Feinkostgeschäft, das schon geschlossen hatte, und eine kleine Bar, die noch offen war. Er rannte über die Straße in die Bar. Und da saß auf einem Barhocker Frink mit einem Bier.
»Komm schon, Sinner«, sagte Frink, der gar nicht erstaunt zu sein schien, ihn zu sehen. »Keine Ahnung, was du von dem Wichser wolltest, aber du hast deinen Spaß gehabt.«
»Verpiss dich«, sagte Sinner.
»Komm schon, Sinner«, wiederholte Frink. Er stand von dem Hocker auf und machte Anstalten, den Arm um den Jungen zu legen. Da zerschmetterte Sinner die Flasche Bourbon an der Theke und stürzte sich mit einem Grunzen auf Frink, der die Hände in die Höhe hob, um sich zu verteidigen, was ihm einen fünf Zentimeter langen Schnitt in der Handfläche einbrachte. Sinner wollte noch einmal auf ihn losgehen, aber der Barmann schlug ihm mit einem kleinen Holztablett auf den Kopf, und er verlor das Bewusstsein. Das Letzte, was er sah, war sein Trainer, der traurig auf ihn hinunterblickte und von dessen schmutzigen Fingerspitzen das Blut tropfte.
Sinner hatte nicht einmal seine Bonbons gegessen.
SECHSTES KAPITEL
November 1935
Am Straßenrand lag verbranntes Holz, wie ein Scheiterhaufen für einen Dachs. »Was ist das?«, fragte Erskine, als der Wagen klappernd daran vorbeifuhr.
»Eine Art Heiligtum, glaube ich«, erwiderte Gittins und sagte etwas auf Polnisch zu dem Kutscher. Die Antwort des Kutschers war so lang, dass Erskine wünschte, er hätte das Thema nicht angeschnitten, aber schließlich kam der Kutscher zum Ende, und Gittins übersetzte.
»Vor hundert Jahren gab es offenbar einen Mönch namens Jakub, der in dem Kloster oben in den Bergen lebte. Eines Tages ging er in die Studierstube seines Abts und ertappte ihn, wie er … nun, wie er etwas Unaussprechliches mit der Tochter des Schmieds hier aus Fluek machte. Ihre Urenkel leben immer noch in der Gegend. Jakub war so empört, dass er den Abt mit einem Dolch tötete und von Schuld und Panik gebeutelt aus dem Kloster floh. Als er an die Straße kam, ließ er den Dolch dort fallen, wo jetzt das Heiligtum ist, stahl ein Pferd und ritt nach Norden in Richtung Danzig. Nachdem er auf seinem Weg dem Bösen und dem Elend in jeder Form begegnet war und geholfen hatte, wo er konnte, traf er in einer Schenke Gott.«
»Verstehe.«
»Jakub fragte Gott, warum Er der menschlichen Grausamkeit erlaube, sich so ungehindert auszutoben. Gott erwiderte, dass er den Menschen den freien Willen gegeben habe, den er nicht wieder zurücknehmen könne. Jakub wandte ein, dass der freie Wille sehr unzuverlässig und unseren tierischen Instinkten unterworfen sei – wenn Gott den Menschen einen wirklich freien Willen geben wollte, warum hatte er sie dann gleichzeitig so hitzköpfig gemacht? Gott sagte zu Jakub, dass er diese Argumente bereits von seinen Engeln gehört habe, ohne dass sie ihn überzeugt hätten. Aber endlich gab Gott nach und schlug Jakub einen Pakt vor. Die Menschen sollten die Möglichkeit bekommen, ihre Taten leidenschaftslos zu betrachten. Jakub würde der Heilige der reuigen Mörder werden: Wann immer ein Mensch einen anderen tötete, würde Jakub ihm erscheinen, ihm Zeit geben, seine Tat gründlich zu bedenken, und ihn dann fragen, ob er es bereue. In diesem Fall konnte der Mensch den Mord zurücknehmen, als sei nichts geschehen. Wenn er es nicht bereute, hatte er aus wirklich freiem Willen gehandelt. Und wenn dieses Vorgehen von Erfolg gekrönt würde, könnte es auch auf alle anderen Sünden übertragen werden. Jakub würde zum zweitgrößten Erlöser werden, der je gelebt hatte.«
In der Ferne entdeckte Erskine über den dunklen Tannen eine dünne Rauchwolke – sie näherten sich dem Dorf.
»Selbstverständlich willigte Jakub ein, aber ihm wurde sogleich klar, dass Gott ihn reingelegt hatte. Jahre um Jahre vergingen, und Jakub erlebte unzählige Bluttaten, bevor er einen einzigen Menschen fand, der seine Tat bereute und sie rückgängig machen wollte. Wir Menschen töten, wie Jakub erkannte, weil es uns gelegen kommt, und unsere niederen Instinkte sind nur eine Entschuldigung. Am Ende begriff er, dass er sogar sich selbst belogen hatte: Er war froh, dass er den Abt getötet hatte und wollte es gar nicht ungeschehen machen. Er ging zu Gott und bat darum, ihn von seiner Aufgabe zu entbinden, da ihm bewiesen worden sei, wie sehr er sich über die menschliche Natur und über seine eigene
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