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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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widersprochen, also hatte Bruiseland vielleicht prinzipiell richtig gelegen, selbst wenn er offensichtlich selbst total übergeschnappt war, denn sonst wäre er wohl kaum so weit gegangen. Frink hätte gewusst, was zu tun war. Sinner jedoch nicht. Also blieb er einfach, wo er war, und hörte zu, wie Bruiseland ächzend Mortons Körper an den Füßen aus der Bibliothek zerrte. Er spürte einen kalten Luftzug, und kurz darauf ertönte draußen vor dem Haus ein leises Platschen, gefolgt von erschrecktem Quaken. Als klar war, dass Bruiseland nicht zurückkommen würde, um das Blut aufzuwischen oder auch nur das Licht auszumachen, schlängelte sich Sinner aus dem Blechhirn, streckte seine kribbelnden Beine und wankte nach oben in Erskines Zimmer.

FÜNFZEHNTES KAPITEL
    Als Evelyn in die Halle kam, saß Erskine immer noch auf dem Bugholzstuhl. Er sprang auf.
    »Ich vermute, du freust dich«, sagte sie.
    »O nein, Evelyn, sag das bitte nicht – was geschehen ist, würde ich meinem schlimmsten Feind nicht wünschen. Und ganz bestimmt nicht dem Verlobten meiner Schwester.« In Wahrheit hatte er Morton Dutzende von Malen Demütigung, Folter und Tod an den Hals gewünscht, aber jetzt beschloss er, dass er es nicht ernst gemeint hatte. »Es tut mir so leid, es ist ein schreckliches … Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Behutsam streckte er die Hand aus, um ihre Schulter zu berühren, aber sie verdrehte die Augen und schob seine Hand weg.
    »Gefühlsduselei steht dir nicht, Phippy. Und ich befinde mich sowieso in einem Schockzustand, das sagen jedenfalls alle, und deshalb ist es völlig egal, was du jetzt sagst. Spar es dir für später auf, wenn ich weine, bis mir die Haare ausfallen. Hast du Tara gesehen?«
    »Nein.«
    »Ich muss sie unbedingt auftreiben. Sie weiß bestimmt, was zu tun ist. Aber sie ist nirgends zu finden. Was ist mit deinem Knaben?«
    »Du meinst, ob er – äh – dafür verantwortlich ist?«, fragte Erskine und überlegte, wieso Evelyn schon jetzt denselben Verdacht hatte wie er.
    »Nein, natürlich nicht – einer dieser Drecksfaschisten war es, das ist doch jedem klar, der nur ein halbes Hirn hat. Ich meine, wo steckt er?«
    »Er schläft.«
    »Wo?«
    »In meinem Zimmer. Warum?«
    Evelyn lächelte. »Ach ja, Tara hat mir erzählt, dass du Vater überredet hast, ihn bei dir schlafen zu lassen. Es ist mir völlig schleierhaft, wie du das geschafft hast, aber Applaus, Applaus, Applaus.«
    »Ich habe Vater nicht –«
    »Nein, lieber Bruder, natürlich nicht. Nein. Gut, ich ziehe jetzt los und rauche hundert Zigaretten, also sehen wir uns beim Mittagessen.« Als Evelyn sich anschickte, die Treppe hochzusteigen, um in ihr Zimmer zu gehen, drehte sie sich noch einmal um und fügte hinzu: »Und wenn du mit den anderen zusammen das Blut anglotzen willst: Sie sind in der Bibliothek.«
    Dann stand sie auf ihrem Balkon, rauchte eine Sobranie und sah auf den Teich hinunter, wo ein frischer Wind das Sonnenlicht sanft durchs Wasser trieb. Wenn sie ein Mädchen in einem Melodram wäre, dachte Evelyn, würde sie Mortons Tod wahrscheinlich als Bestrafung für ihren kleinen Fehltritt mit Sinner ansehen und für den Rest ihres Lebens Angst vor Sex haben. Aber sie hatte es eigentlich immer als naturgegeben betrachtet, dass Dinge gleichzeitig geschahen. Und doch war es ihr unmöglich, den Kopf freizukriegen, denn wenn sie an das eine dachte, wurde sie an das andere erinnert, als seien die Ereignisse zwei ältere, größere Mädchen, die einen Ball hin und her warfen, damit sie ihn nicht erreichte, und sie müsse von einer Peinigerin zur anderen laufen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbräche. Was sie mit Sinner getan hatte, war nicht so schrecklich wie das, was Morton widerfahren war – tatsächlich war sie sogar zutiefst dankbar dafür –, aber es verwirrte sie immer noch bis ins Mark. Und jetzt begann eine dritte, gleichartige Besorgnis hervorzutreten, ein verborgenerer, komplizierterer Stachel: die schuldbeladene Möglichkeit, dass ihr das, was sich in der Nacht zuvor im Musikzimmer ereignet hatte, bedeutungsvoller war als das, was (soweit sie wusste, im selben Moment) in der Bibliothek geschehen war – die Möglichkeit, dass sie sich, selbst wenn sie Sinner niemals wiedersehen sollte (und sie hatten sich ja eigentlich erst zweimal getroffen), länger an sein Gesicht erinnern würde als an Mortons. Sie hatte immer gewusst, dass sie diesem Winchester-College-Absolventen und allem, wofür er stand, eines Tages

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