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Fliegende Fetzen

Fliegende Fetzen

Titel: Fliegende Fetzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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feststel en, was ihm gleich durch den Kopf gehen
    würde, denn er wurde ständig vom ganzen Universum neu program-
    miert. Der Anblick eines Wasserfalls oder eines dahinsegelnden Vogels
    veranlaßte ihn, über einen neuen Pfad praktischer Spekulation zu eilen,
    der unweigerlich in einem Haufen aus Draht und Federn sowie dem Ruf
    »Jetzt weiß ich, wo der Fehler liegt!« endete. Er war Schüler der meisten
    Handwerksgilden in der Stadt gewesen, war jedoch verstoßen worden,
    weil er bei den Prüfungen unerhört hohe Punktzahlen erreicht oder in
    manchen Fäl en die Fragen korrigiert hatte. Es hieß, er hätte unabsicht-
    lich das Laborgebäude der Alchimistengilde in die Luft gejagt – mit ei-
    nem Glas Wasser, einem Löffel Säure, zwei Drähten und einem Tisch-
    tennisball.
    Ein vernünftiger Herrscher hätte Leonard längst umbringen lassen,
    und Lord Vetinari war sehr vernünftig. Manchmal dachte er über die Frage nach, warum er sich dagegen entschieden hatte. Vielleicht lag es dar-
    an, daß sich im kostbaren, wissensdurstigen Bernstein von Leonards
    Bewußtsein und unter seinem unermüdlichen Genie eine Unschuld
    verbarg, die man bei geringeren Personen für Dummheit hätte halten
    können. Dort wohnte die Seele jener Kraft, die über Jahrtausende hin-
    weg Menschen dazu veranlaßt hatte, ihre Finger in die Steckdose des
    Universums zu bohren und anschließend mit dem Schalter zu spielen,
    um festzustellen, was passierte – in den meisten Fällen waren sie sehr
    überrascht, weil tatsächlich etwas geschah.
    Mit anderen Worten: Leonard war etwas Nützliches. Und eins konnte
    man gewiß vom Patrizier behaupten: Er war das politische Äquivalent
    einer alten Dame, die Teile von Bindfäden aufbewahrte, weil sie irgend-
    wann einmal zu verwenden waren.
    Man konnte nicht für jede Eventualität planen, denn dazu mußte man
    wissen, was geschehen würde. Und wenn man wußte, was geschehen
    würde, so konnte man vermutlich dafür sorgen, daß es nicht geschah –
    oder daß es jemand anderen zustieß. Deshalb plante der Patrizier nicht.
    Pläne waren oft nur im Weg.
    Außerdem ließ er Leonard am Leben, weil er ihn für einen angeneh-
    men Gesprächspartner hielt. Er verstand nie, wovon Lord Vetinari
    sprach, und sein Weltbild mochte in etwa so komplex sein wie das eines
    Entenkükens mit Gehirnerschütterung. Eigentlich achtete er nie wirklich
    darauf, worum es ging, und das machte ihn zu einem hervorragenden
    Vertrauten. Wenn man bei jemandem Rat sucht, so erwartet man eigent-
    lich gar nicht, daß man auch Rat bekommt. Man möchte nur Gesel -
    schaft haben, während man mit sich selbst redet.
    »Ich habe gerade Tee aufgesetzt«, sagte Leonard. »Möchtest du eine
    Tasse?«
    Leonard folgte dem Blick des Patriziers zu einem braunen Fleck, der
    an einer Wand emporreichte und oben in einen Stern aus geschmolze-
    nem Metal mündete.
    »Ich fürchte, das mit der automatischen Teemaschine hat nicht richtig
    geklappt«, sagte er. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als die manuelle Methode zu benutzen.«
    »Sehr freundlich«, erwiderte Lord Vetinari.
    Er nahm inmitten der Staffeleien Platz und blätterte durch die letzten
    Skizzen, während Leonard am Kamin tätig wurde. Leonard von Quirm
    skizzierte so, wie andere Leute kritzelten. Geniales – Geniales von einer
    gewissen Art – fiel wie Schuppen von ihm ab.
    Lord Vetinari sah das Bild eines Mannes, der malte: Die Linien stel ten
    die Gestalt so gut dar, daß sie eine dritte Dimension gewann und aus
    dem Papier herauszuragen schien. Leonard vergeudete niemals Platz,
    weshalb andere Skizzen den gezeichneten Maler umgaben. Ein Daumen.
    Eine Vase mit Blumen. Ein Apparat, der von Wasserkraft angetrieben
    wurde und offenbar dazu diente, Bleistifte anzuspitzen…
    Vetinari fand, was er suchte, in der unteren linken Ecke der Seite, ein-
    geklemmt zwischen einem Entwurf für eine Art von Schraube und ei-
    nem Werkzeug, um Austern zu öffnen. So etwas, oder zumindest etwas
    ähnliches, war immer irgendwo dazwischen.
    Leonard war deshalb so kostbar – und mußte hinter Schloß und Riegel
    gehalten werden –, weil er keinen Unterschied sah zwischen dem Dau-
    men, den Blumen, dem Bleistiftanspitzer und diesem Ding.
    »Oh, das Selbstporträt«, sagte Leonard, als er mit zwei Tassen zurück-
    kehrte.
    »In der Tat«, entgegnete Vetinari. »Allerdings galt meine Aufmerksam-
    keit mehr der kleinen Skizze hier. Diese Kriegsmaschine…«
    »Ach das? Ist nicht weiter wichtig. Hast du

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