Flieh solange du kannst
hatte er sie beschuldigt, kalt und gefühllos zu sein. Aber nach dem, was gestern Abend passiert war, konnte man sie wohl kaum als gefühllos bezeichnen.
“Hundertdreißig”, las Preston die Anzeige ab.
Verdutzt sah sie ihn an. “Hundertdreißig?”
Preston schien überrascht, dass sie so abwesend reagierte. “Der Blutzuckergehalt von Max. Hundertdreißig.”
“Ach so, ja.” Um zu überspielen, dass ihr peinlich war, was sie dachte, lächelte sie. Denn in ihren Gedanken öffnete Preston gerade noch einmal den Morgenmantel.
Er warf ihr einen belustigten Blick zu. “Du wirst ja rot.”
Sie räusperte sich. “Hundertdreißig ist genau richtig. Wir hätten ruhig ein bisschen länger schlafen können.”
So wie er sie jetzt ansah wusste sie, dass auch er sich an das erinnerte, was ihr in den Sinn gekommen war, und sie spürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch.
“Vielleicht ist es aber auch besser, wir machen uns möglichst bald schon auf den Weg”, sagte sie in dem Bewusstsein, dass sie nicht noch einmal ein solches Erlebnis wie das gestrige verkraften würde, ohne diesem Mann, der ihr doch einfach nur ein Stück weit helfen wollte, ganz zu verfallen.
“Wir könnten es schaffen, ganz Nebraska an einem Tag zu durchqueren, wenn wir frühzeitig losfahren”, sagte er.
“An einem Tag? Wie weit ist es denn?”
“Ich glaube so knapp achthundert Kilometer, aber ich bin mir nicht sicher. Ich muss sowieso noch einiges am Computer erledigen, da kann ich mir die Strecke gleich noch mal im Internet ansehen.”
“Soll ich uns ein paar Sachen zum Frühstück besorgen? Ich könnte mal nachschauen, ob irgendwo um die Ecke ein Laden ist.”
“Ruf lieber den Zimmerservice an, das geht schneller”, sagte er.
“Okay.”
Nachdem sie den Fernseher für Max eingeschaltete hatte, griff Emma nach der Tüte mit ihren neuen Kleidern, ging ins Badezimmer und schloss die Tür. Eine Dusche würde sie hoffentlich ganz wach machen. Als sie den Pyjama auszog, konnte sie nicht anders als sich im Spiegel betrachten. Preston hatte behauptet, sie sei zu dünn. Aber gestern Abend schien er doch ganz zufrieden mit ihren Proportionen.
Emma drehte sich um, schaute sich von der Seite an und seufzte. Vielleicht bevorzugte er ja Frauen, die etwas fülliger waren.
“Mommy, ich hab Hunger! Was machst du denn da so lange?”, rief Max.
Sie litt unter ihrem Erscheinungsbild, und das zu einem Zeitpunkt, wo sie Verunsicherung am allerwenigsten brauchen konnte.
Um auf andere Gedanken zu kommen, drehte sie die Dusche auf und stellte sich unter den heißen Wasserstrahl. Gleichzeitig entschied sie, dass es wirklich dumm von ihr wäre, wenn sie sich zu sehr auf Preston fixierte. Sie war Manuel mit knapper Not entkommen und konnte keine neuen Abhängigkeiten brauchen. Das gute Zureden brachte leider gar nichts, denn schon ein paar Sekunden später stellte sie sich vor, wie das Wasser, das über ihren nackten Körper rann, sich in Prestons Hände verwandelte, und wie sein Mund …
Wenn er jetzt hier bei ihr in der Dusche wäre! Bei dem Gedanken daran wurde Emma schwindelig, und ihr stockte der Atem. Beinahe schon spürte sie seine Hand auf ihrer Haut, sah seine Lippen vor sich, wie sie versuchten, die Wassertropfen von ihrem Körper zu küssen …
Sie schloss die Augen, streckte sich dem sprudelnden Wasser entgegen und erinnerte sich an das, was Preston gestern Abend mit ihr gemacht hatte. Dann musste sie lächeln. Stolz darauf, dass es ihr gelungen war, sich ihm hinzugeben. “Da siehst du es, Manuel”, dachte sie zufrieden, “ich bin keineswegs kalt und gefühllos.”
An diesem Morgen fühlte Preston sich ruhiger und gefestigter als in all den Monaten, die hinter ihm lagen. Das war eindeutig eine große Verbesserung, denn normalerweise fiel es ihm unendlich schwer, überhaupt einen Grund zu finden aufzustehen. Doch das Gefühl der Erleichterung ging nicht mit echter Entspannung einher. Wahrscheinlich war Emmas Gegenwart daran schuld, aber er weigerte sich, länger darüber nachzudenken.
Er blendete die Duschgeräusche und den Lärm des Fernsehgeräts aus und konzentrierte sich auf die Liste der E-Mails in seinem Computer. Weil er sich so intensiv mit Emma und Max beschäftigt und ständig darüber nachgedacht hatte, wie er sie am schnellsten und sichersten nach Iowa bringen könnte, hatte er kaum Zeit gehabt, sich mit dem Laptop zu befassen. Jetzt quoll sein elektronisches Postfach über mit Spam-Mails, Newslettern und Börsentipps
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