Flieh solange du kannst
jemand ihn gestohlen hatte. In dieser Stadt gab es kaum Verbrechen. Er fand es hier so sicher, dass er normalerweise den Zündschlüssel in seinem Kombi stecken ließ.
“Es ist nicht hier passiert”, erklärte sie, “sondern im Ort vor dem Supermarkt.”
“Sind Sie sicher, dass Sie nicht einfach vergessen haben, wo der Wagen stand?”
Der Mann brachte sie wirklich auf die Palme! Emma musste sich sehr beherrschen, um nicht laut zu werden. “Ich habe bestimmt nicht vergessen, wo er stand. Der Wagen ist weg und mit ihm mein ganzes Gepäck. Max und ich mussten den ganzen Weg vom Supermarkt bis hierher zu Fuß gehen.”
“Sie können gern mein Telefon benutzen, falls sie die Versicherung informieren möchten … oder was möchten Sie?”, fragte er sehr reserviert. Er kannte diese Frau doch überhaupt nicht. Was erwartete sie denn von ihm?
“Nein, danke, darum geht es nicht”, sagte sie angespannt. “Die Versicherung kann mir da auch nicht helfen.”
“Wieso denn nicht?”
“Der Wagen war nicht gegen Diebstahl versichert. Dafür reichte mein Geld nicht. Mein Freund und ich, wir haben uns gerade getrennt und … da konnte ich mir einfach nicht mehr leisten.”
Preston bemerkte ihren gequälten Gesichtsausdruck. Sie hatte himmelblaue Augen und ihre Wimpern glänzten golden, die Nase war fein geschnitten, der Mund geschwungen, die Haut von der Sonne gebräunt, und langes blondes Haar fiel ihr weit über den Rücken. Eine wunderschöne Frau. Aber womöglich benutzte sie ihre Schönheit nur, um andere Leute auszunutzen. Die Geschichte von dem Diebstahl klang reichlich seltsam. Vielleicht war sie es ja gewohnt, dass man ihr jeden Wunsch erfüllte.
Aber warum versuchte sie es dann bei ihm? Er besaß doch kaum etwas. Bestenfalls die Pistole war etwas wert.
“Vielleicht wollen Sie ja Ihre Familie anrufen oder eine Freundin oder sonst jemanden”, bot er an. “Oder sind Sie gar nicht gekommen, um mein Telefon zu benutzen?”
“Nein.”
“Warum dann?”
Ihr Blick wanderte zu dem schmutzigen braunen Kombi, den er für wenig Geld bei einem Gebrauchtwagenhändler erstanden hatte.
“Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, Sie könnten uns vielleicht ein Stückchen mitnehmen.”
Na also, jetzt war es endlich raus. “Mitnehmen? Wohin denn?”
“Nach Iowa.”
“Wie bitte?”
“Sie haben doch genug Platz.” Sie schaute ihn mit diesen wunderschönen Augen an, und jetzt erst merkte Preston, dass sie unter ihrer Sonnenbräune ganz blass aussah. “Meine Familie lebt dort. In Iowa, meine ich.”
“Aber wir kennen uns doch gar nicht!”
“Ja, ich weiß.”
Jetzt sah er auch, dass sie ein bisschen zu dünn war und einen ziemlich erschöpften Eindruck machte. Aber er konnte ihr nicht helfen. Er würde es einfach nicht aushalten, diesen Jungen in seinen Wagen zu lassen. Und dann gab es da noch seine geladene Pistole. Er schüttelte den Kopf. “Vergessen Sie es. Das geht nicht.”
“Warum denn nicht.”
“Nach Iowa braucht man drei Tage.”
“Und wie wäre es mit Salt Lake City? Das ist nicht so weit weg.”
Nein, er würde sie nirgendwohin mitnehmen. Wieder schüttelte er den Kopf, aber sie fasste ihn am Arm. “Bitte!”, flehte sie. “Bitte!”
Verdammt!
Preston schloss die Augen. Seit dieser schlimmen Tragödie, die ihn aus der Bahn geworfen hatte, war ihm niemand so nahegetreten. Niemand hatte gewagt, ihn um einen Gefallen zu bitten. Er war viel zu wütend, zu rachsüchtig, voller negativer Gefühle, vor denen andere Menschen normalerweise zurückschreckten. Wie konnte er mit einem Mal in so eine vertrackte Situation geraten?
Er schlug die Augen auf und starrte die Hand an, die noch immer verzweifelt seinen Arm umklammerte. Auf dem Handrücken bemerkte er eine hässlich aussehende Wunde, die bestimmt sehr schmerzhaft war und aussah, als wollte sie überhaupt nicht mehr heilen. Bevor sie die Hand wegziehen konnte, packte er ihr Handgelenk, hielt es hoch und fragte: “Wie ist das passiert?”
Auch sie sah auf die Wunde. “Das war ein Unfall.”
Es gab keinen Grund für ihn, so zu tun, als glaube er ihr. “Ein Unfall?”
“Ich bin gegen meinen Freund gestoßen, als er gerade eine Zigarette geraucht hat und habe mich dabei verbrannt.”
“So eine Wunde bekommt man nicht zufällig. Dazu ist sie viel zu tief.”
Als sie nicht antwortete, ließ er ihre Hand los. “Wollen Sie mir nicht lieber die Wahrheit sagen? Sonst können wir unser Gespräch auf der Stelle beenden!”
“Na gut”,
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