Flieh solange du kannst
Freundschaft, nach jemandem, mit dem sie sich richtig unterhalten konnte. Da half eine zufällige Begegnung mit einem Fremden vermutlich kaum weiter, aber es war immer noch besser, kurz mit jemandem zu sprechen, als völlig allein zu bleiben.
“Na gut, dann sag ich Ihnen die Wahrheit”, meinte er mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme. “Es ist besser, wenn ich keine Schlaftabletten im Haus habe.
“Aber warum?”
Er stieß eine Rauchwolke aus. “Warum wohl?”
Natürlich wusste sie, worauf er mit dieser Bemerkung anspielte. Aber irgendetwas daran klang falsch. Emma glaubte, dass er es nur darauf anlegte, sie zu schockieren.
“Tja, und was soll ich jetzt dazu sagen?”, gab sie zurück.
“Gar nichts. Sie sollen herausfinden, dass ich ein unberechenbarer Charakter bin und es besser für Sie wäre, wieder in ihr Zimmer zu gehen.”
“Und wenn mich der Gedanke, dass Sie schon einmal an Selbstmord gedacht haben, gar nicht so erschüttert, wie Sie glauben?”
“Es wäre aber besser.”
Offenbar spielt er gern die Rolle des Mannes, dem alles egal ist, dachte Emma und entgegnete: “Vielleicht kann ich ja verstehen, wie Sie sich fühlen. Vielleicht bin ich auch schon mal an diesem Punkt gewesen.” Das stimmte, sie hatte einmal ganze drei Stunden lang eine Packung Schlaftabletten angestarrt und überlegt, ob sie sie alle nehmen sollte. Es wäre die einfachste Art gewesen, vor Manuel zu fliehen. In seiner Gegenwart fühlte sie sich so unbedeutend, so wütend und unendlich hilflos. Da käme ein Selbstmord einem Akt des Widerstands gleich. Damit hätte sie ihm gezeigt, dass sie doch die letzte Macht über sich selbst besaß. In einer großen dramatischen Geste hätte sie ihn damit in seine Schranken weisen können.
Ohne Max hätte sie es womöglich getan.
Der Wind blies Preston die blonden Haarsträhnen ins Gesicht. Er schnippte die Asche von seiner Zigarette und sagte: “Wollen Sie mir damit sagen, dass sie auch verrückt sind?”
“Wenn man sich einsam fühlt, heißt das doch noch lange nicht, dass man verrückt ist.”
“Manchmal schon.” Mit finsterem Blick starrte er auf die glimmende Zigarette zwischen seinen Fingern. “Aber das ist ja auch egal. Sie kennen mich doch gar nicht. Und außerdem haben Sie ein Kind dabei.”
Er kam ihr immer rätselhafter vor. Über den Parkplatz hinweg sah sie zum Hauptgebäude. “Maude scheint zu glauben, dass Sie ganz in Ordnung sind.”
“Das muss gar nichts heißen. Sie kennen sie kaum”, entgegnete er und nahm wieder einen Zug von der Zigarette.
“Was wollen Sie damit sagen? Dass ich Ihnen beiden nicht trauen kann?”
“Das Beste ist, man traut überhaupt niemandem.”
“Das scheint Ihnen ja sehr wichtig zu sein.”
“Es wäre gut, wenn alle so denken würden.” So wie er sie jetzt musterte, hätte Emma eigentlich Angst bekommen müssen, aber irgendwie machte er alles so … übertrieben.
“Sie sind ja noch nicht mal richtig angezogen”, sagte er.
“Der Pyjama kleidet mich ganz gut”, sagte sie kühl.
“Na ja, besonders hübsch sieht er nicht gerade aus.”
“Ich habe auch gar nicht die Absicht, Sie damit zu beeindrucken. Aber Sie können ruhig höflicher zu mir sein.”
Statt etwas darauf zu erwidern, ließ er den Zigarettenstummel fallen, zerdrückte ihn mit dem Absatz und schwieg.
“Wollen Sie nun darüber reden, oder nicht?”, fragte sie.
Immer noch stumm, stieß er sich vom Pfosten ab und näherte sich. Emma schreckte zurück – dabei rutschte ihr die Dose mit dem Spray aus der Hand und fiel zu Boden.
Preston betrachtete sie neugierig. “Na bitte, jetzt werden Sie langsam vernünftig.” Er beugte sich hinunter, hob die Dose auf und gab sie ihr zurück. Dann lachte er freudlos vor sich hin und ging in sein Zimmer zurück.
Was für eine tolle Gründungsveranstaltung für den Klub der einsamen Herzen, dachte Emma und starrte die Spraydose an. Aber was kümmerte es sie eigentlich? Sie würde diesen Preston sowieso nie wiedersehen. Und sie hatte wirklich genug eigene Probleme, um die sie sich kümmern musste. Außerdem sollte sie unbedingt schlafen. Je mehr Kilometer sie zwischen sich und ihr altes Zuhause brachte, umso besser. Morgen würde wieder ein langer Tag werden.
Im Supermarkt herrschte mehr Betrieb als Emma vermutet hatte. Anscheinend war es der einzige große Laden in der Stadt.
Max schob den Einkaufswagen durch den Gang zwischen den Regalen, während sie nach Mineralwasser suchte. Eigentlich wollte sie schon
Weitere Kostenlose Bücher