Flieh solange du kannst
klein war, versuchte Max oft, ihr Mut zu machen und versicherte ihr, dass ihm die ständigen Tests und Injektionen nichts ausmachten. Sie kannte dieses sanfte Lächeln und wusste, ihr Sohn wollte ihr damit sagen, dass alles in Ordnung sei und es ihm gut gehe. Aber natürlich bewirkte es in dieser Situation das Gegenteil von dem, was er beabsichtigte. Sie fühlte sich schuldig und verantwortlich. Sie hätte ihre Abwesenheit besser vorbereiten sollen.
Er lebt.
Bald geht es ihm wieder besser, sagte sie sich. Aber sie bemerkte auch Prestons tränenüberströmtes Gesicht. So wütend und hasserfüllt, wie er sie ansah, wurde ihr augenblicklich klar, was hier Schreckliches passiert sein musste. Max würde sich vielleicht schnell wieder erholen. Aber was war mit Preston? Wie würde er den furchtbaren Schock verkraften?
Emma konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Es war alles ihre Schuld. Sie hätte ihm von Max’ Krankheit erzählen sollen. Aber sie hatte sich doch so gefürchtet, dass Preston ihr dann jede weitere Hilfe verweigert hätte! Und natürlich wäre sie niemals auf die Idee gekommen, Preston und Max könnten gemeinsam schwimmen gehen. Preston hatte ihren Sohn bislang doch kaum angesehen.
“Komm her zu mir, Liebling”, sagte sie zu Max. “Erzähl mir, was passiert ist.”
“Ich … war … runter, Mommy.”
“Als du im Wasser warst?”
“Hm-hm.”
Er taumelte auf sie zu und ließ sich in ihre Arme fallen. Emma vergrub ihr Gesicht in seinen wuscheligen Haaren und spürte, wie ein unendliches Glücksgefühl von ihr Besitz ergriff, als sie seinen kleinen Körper umarmte. Sie drückte ihn fest an sich.
“War es sehr schlimm?”, fragte sie an Preston gewandt.
Er antwortete nicht, sondern stand auf und ging mit unsicheren Schritten in Richtung der Zimmer.
“Lloyd Bannister ist schon unterwegs”, erklärte die Rezeptionsangestellte, um die peinliche Stille zu durchbrechen. “Er ist ein guter Arzt und hat seine Praxis hier im Ort schon seit vielen Jahren. Und der Junge macht ja schon wieder einen viel besseren Eindruck, Gott sei Dank.”
Emma murmelte ein höfliches Dankeschön. Aber ihre Gedanken kreisten nur um ihren Sohn – und um Preston. Würde er dieses schreckliche Erlebnis verkraften? Und wie um Himmels willen konnte sie ihren schrecklichen Fehler wieder gut machen?
Kurz darauf kam Preston zurück, bekleidet mit einem sauberen T-Shirt und Jeans. Sein Gang war wieder normal, er wirkte gefestigt. Emma hoffte inständig, dass er ihr vergab. Aber diese Hoffnung erlosch augenblicklich, als sie sah, dass er seine Reisetasche und den Computer bei sich trug.
“Ich brauche mein Handy”, verlangte er barsch, mit einer Stimme, die sich fast überschlug.
Mit zitternden Händen suchte Emma in ihrer Handtasche nach dem Mobiltelefon und reichte es ihm. Sie wollte sich bei ihm entschuldigen, aber er wandte sich sofort ab und ging auf die Hotelangestellte zu.
“Ich reise jetzt ab”, sagte er.
Stumm sah Emma ihnen nach, als sie zur Rezeption gingen. Wenige Minuten später verließ Preston das Gebäude. Er musste blinzeln, als er ins grelle Sonnenlicht trat, und Emma fiel ein, dass sie ja noch seine Sonnenbrille und seine Baseballmütze bei sich trug. Vielleicht würde er es auch merken, sich umdrehen und noch einmal zu ihr kommen. Aber es schien ihn nicht zu kümmern. Er schaute nicht in ihre Richtung, vermied jeden Blickkontakt mit dem Schwimmbadbereich. Stattdessen warf er sich die Tasche über die Schulter und ging die Straße entlang. Zielstrebig entfernte er sich, ohne ein Wort des Abschieds.
Wenig später saß Emma auf dem Bett in Prestons Zimmer und starrte ins Nichts, während im Badezimmer das Wasser aus dem Duschkopf tropfte. Offenbar hatte er sich so beeilt, dass er sich nicht mal die Zeit genommen hatte, den Hahn ordentlich abzudrehen.
“Mommy?” Max trat zu ihr und versuchte, durch die Haare hindurchzuspähen, die ihr Gesicht wie ein Vorhang verdeckten. “Stimmt etwas nicht?”
Sie war viel zu enttäuscht, viel zu mutlos, um noch weinen zu können. Also schüttelte sie den Kopf und sagte nur: “Es ist nichts, Liebling. Mach dir keine Sorgen.”
“Bist du böse?”
“Nein. Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht. Sonst nichts.”
Er kletterte auf ihren Schoß, was er nur noch selten tat, seit er sich wie ein “großer Junge” fühlte. Aber manchmal ließ er sich doch noch gern von ihr streicheln. Sie küsste ihn auf die Stirn und drückte ihn fest an sich. Immerhin
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