Flieh solange du kannst
“Weck mich, wenn ich dich ablösen soll.”
Während des Abendessens war Preston schweigsam, aber nicht so ablehnend wie zuvor. Er hatte Max geholfen und darauf bestanden, dass sie mehr aß als sie eigentlich wollte, und er bezahlte die Rechnung. So mit ihm zusammenzusitzen gefiel Emma sehr – bis die Kellnerin ihnen das Kompliment machte, was für eine hübsche kleine Familie sie doch seien. Da zuckte er zusammen und reagierte plötzlich wieder abweisend.
“Du musst mich nicht ablösen. Ich bin hellwach”, sagte er. “Und wir sind sowieso bald in Salt Lake City.”
Und was ist dann, hätte Emma gern gefragt. Aber nach den schrecklichen Ereignissen des heutigen Tages hätte sie seine Antwort wahrscheinlich nicht verkraftet. Bestimmt setzte er sie in irgendeinem Motel ab, genau wie gestern Abend.
Glücklicherweise war Salt Lake City eine größere Stadt. Dort konnte sie sich mit Max viel besser verstecken, sich ein oder zwei Tage lang ausruhen, Unterwäsche und Wechselsachen kaufen und in Ruhe darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.
“Irgendein billiges Motel ist schon in Ordnung”, murmelte sie vor sich hin.
“Was?”
“Wenn du uns absetzt.” Sie gähnte und fiel zum ersten Mal seit langer Zeit in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Wenn du uns absetzt …
Preston runzelte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf. Er konnte sie nicht einfach irgendwo absetzen. Das versuchte er, seit sie sich kennengelernt hatten, aber sie waren immer wieder zusammengekommen. So wie sich die Lage entwickelt hatte wäre es das Beste, er brächte sie direkt nach Iowa. Wahrscheinlich würde das anstrengend werden, und er könnte seine eigenen Angelegenheiten nicht so zügig erledigen wie geplant – aber genau betrachtet kostete ihn dieser kleine Umweg höchstens fünf Stunden. Wenn er sie sicher im Mittelwesten ablieferte, und sie sich endgültig trennten, würde er keine Gewissensbisse mehr haben, keine Hintergedanken und keine Zweifel.
Momentan ging es einzig und allein darum, möglichst viel Raum zwischen die beiden und ihren Verfolger zu bringen. Seit er Manuel gesehen hatte, wusste er, dass dieser Kerl nicht lockerlassen würde.
Sie kamen gut voran. Irgendwann lenkte Preston den Wagen auf einen Rastplatz und Emma wachte auf. Während Preston den Tank auffüllte, testete Emma Max’ Blut und gab ihm noch etwas Insulin. Dann fuhr Preston weiter, und Emma und Max schliefen wieder ein.
Gegen Mitternacht wurde auch er langsam müde. Seine Augen brannten und er spürte einen Krampf im Bein. Dennoch wollte er unbedingt weiterfahren. Sie fuhren nun, nach dem Umweg über einige kleinere Straßen, wieder auf der Schnellstraße, die direkt nach Salt Lake City führte. Das bedeutete, dass sie jederzeit damit rechnen mussten, auf Manuel zu stoßen, denn wann genau und wie er sich auf die Suche gemacht hatte, wussten sie nicht. Erst wenn sie in Salt Lake City im Gewühl der anonymen Großstadt untergetaucht waren, durften sie sich halbwegs in Sicherheit wiegen.
Aber noch waren sie nicht dort.
Die Straße führte jetzt monoton geradeaus, zwischen den flachen Salzseen hindurch, und das endlos lange Geradeausfahren machte Preston zu schaffen. Die Ortschaften lagen hier sehr weit auseinander, und nur gelegentlich sah man draußen etwas so Interessantes wie eine alte Salzfabrik aus dem Dunkel auftauchen, und dahinter riesige Salzberge, die jetzt mitten in der Nacht beinahe gespenstisch wirkten.
Schließlich näherten sie sich der Hauptstadt des Staates Utah, und am Rand der Autobahn erstreckte sich der große See, dem die Metropole Salt Lake City ihren Namen verdankte. Das Mondlicht spiegelte sich in dem sumpfigen seichten Wasser, das sich endlos weit erstreckte, und man roch den modrigen Geruch des Sees. Preston erinnerte sich daran, wie er einmal mit Dallas im Großen Salzsee baden gewesen war und wie aufgeregt der Junge war, als er feststellte, dass er sich nur auf das Wasser legen musste und wegen des hohen Salzgehalts nicht untergehen konnte.
Endlich sah er die Umrisse der Schornsteine, die zum Industriegebiet von Salt Lake City gehörten. Sie hatten es geschafft. Aber er spürte nur zum Teil Erleichterung, denn die Erinnerungen an seine Zeit mit Christy und Dallas waren wieder wach geworden. Wie oft waren sie hier gewesen, in der Stadt, am See oder auch in der Umgebung zum Skifahren. Aber das war längst vorbei. Wenn er es doch nur für immer vergessen könnte!
Trotzdem ließ er die bittersüßen Erinnerungen
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