Flieh Wenn Du Kannst
sich auf Sexualpraktiken eingelassen, die mit einem besonderen Risiko behaftet sind?«
Bonnie starrte ihn an. »Was meinen Sie damit?« stotterte sie.
»Analverkehr, häufiger Partnerwechsel, Geschlechtsverkehr mit einer Person, die infiziert ist«, leierte er mit einer Nonchalance herunter, die sie beunruhigend fand. »Leben Sie in einer monogamen Beziehung, Mrs. Wheeler?«
»Ich habe meinen Mann nie betrogen«, antwortete Bonnie.
»Und Ihr Mann?«
»Das weiß ich nicht«, bekannte sie nach einer kleinen Pause. Lieber Gott, was sagte sie da?
»Dann machen wir den Test. Sicherheitshalber.« Dr. Kline tätschelte ihre Hand und drückte ihre zitternden Finger.
Bonnie nickte und ließ sich ein letztes Fläschchen Blut abnehmen. Wie hatte sie dem Arzt nur sagen können, sie sei nicht sicher, ob ihr Mann monogam sei? Konnte sie denn allen Ernstes glauben, Rod hätte ein Verhältnis? Vertraute sie ihrem Mann so wenig? Wenn es so war, warum hatte sie dann darauf bestanden, daß er mit Marla nach Miami flog? Und warum erwartete sie jetzt so ängstlich seine Rückkehr? Wurde sie langsam zu einer jener Frauen, die ihr immer leid getan hatten; die zu ihrem Mann standen, ganz gleich, wie tief er sie erniedrigte; die Frustrationen und Enttäuschungen in sich hineinfraßen, bis es sie buchstäblich krank machte?
Wie ihre Mutter.
Bonnie dankte Dr. Kline, zog sich wieder an und ging in die nächste Apotheke, um die verschriebenen Tabletten zu kaufen. Die ersten beiden nahm sie, wie angewiesen, sofort. Immer das brave Kind, dachte sie mit leiser Bitterkeit, als sie zu ihrem Wagen zurückkehrte und sich ans Steuer setzte, ohne jedoch den Motor anzulassen.
Und wohin jetzt? dachte sie; sie hatte keine Eile, nach Hause zu fahren. Sie konnte natürlich in die Schule fahren, aber wozu? Man hatte für den Tag bereits eine Ersatzlehrkraft, außerdem war der Unterricht fast vorbei. Sie konnte einen Einkaufsbummel machen, aber dazu war sie nicht in Stimmung. Und nach Spazierengehen, Lesen oder selbst einem Kinobesuch, einfachen Vergnügungen, die vor wenigen Wochen noch etwas Selbstverständliches gewesen waren, war ihr überhaupt nicht zumute.
Vielleicht würden die Antibiotika helfen. Vielleicht würde sie schon morgen eine erste Besserung merken. Vielleicht würden sie aber auch nicht helfen. Vielleicht würde gar nichts helfen, weil gar nichts war. Jedenfalls nicht mit ihrem Körper. Vielleicht würde es ihr erst wieder bessergehen, wenn... wenn was? Wenn sie sich mit ihren lang unterdrückten, feindseligen Gefühlen gegen ihre Ursprungsfamilie auseinandersetzte? Hör bloß auf, dachte sie, ließ zornig den Wagen an und fuhr los. Dieser ganze Psychokrempel. Zweihundert Dollar für einen Rat, den jeder Psychologiestudent im ersten Jahr ihr gegeben hätte, nur um sich selbst reden zu hören. So eine Verschwendung! Was sollte schon dabei herauskommen, wenn sie es auf eine Konfrontation mit ihrem Vater ankommen ließ? Er würde sie sowieso nicht verstehen. Wahrscheinlich würde er ihr überhaupt nicht zuhören.
Sie tun es ja nicht für ihn, hatte Dr. Greenspoon gesagt.
»Ich tue es überhaupt nicht«, erklärte Bonnie laut, trat aufs Gaspedal und drehte das Radio auf volle Lautstärke.
Knapp eine Stunde später hielt sie vor dem Haus in der Maple Road 422 in Easton. Und jetzt? fragte sie die Frau, die ihr aus dem Rückspiegel entgegenblickte. Was tust du hier? Du bist wider besseres Wissen den ganzen Weg bis hierher gefahren, und was glaubst du hier zu erreichen? Daß dein Vater sich bei dir entschuldigt? Geht es dir darum? Daß er dir eine Erklärung gibt? Als würdest du ihm auch nur ein Wort glauben. Also, warum bist du hier? fragte sie sich wieder.
Du bist hier, um dein Leben in den Griff zu bekommen, antwortete ihr Spiegelbild. Bonnie stieß die Autotür auf und schwang ihre Beine aus dem Wagen. Unsicher tastend berührten ihre Füße den Boden. Du bist hier, um deine Zukunft zurückzufordern, und das kannst du nur, indem du dich mit deiner Vergangenheit auseinandersetzt.
Joans Tod hatte sie aus der Bahn geworfen, sie wieder mit der Familie in Kontakt gebracht, die sie hinter sich hatte lassen wollen. Und jetzt stand diese Familie wie eine Mauer vor ihr, versperrte ihr den Weg und erlaubte ihr nicht, vorwärtszugehen. Sie müßte nichts weiter tun, als diese Menschen damit zu konfrontieren, ihnen sagen, was sie zu sagen hatte und gehen. Sie brauchte sie nie wiederzusehen. Es ist doch ganz einfach, sagte sie sich,
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