Flieh Wenn Du Kannst
bist nicht unsere Mutter, Bonnie. Ein paar Tage sind kein ganzes Leben.«
Bonnie versuchte zu lächeln, aber ihre Lippen zitterten, zuckten, und sie gab den Versuch auf. »Seit wann bist du so ein netter Kerl geworden?« fragte sie.
»Während du geschlafen hast, hat jemand angerufen«, sagte Nick, ihre Frage ignorierend. »Ein gewisser Josh Freeman. Er behauptete, er sei ein Freund von dir.«
Bonnie nickte. »Er ist Lehrer an der Weston High School. Er war gestern hier und hat mir Hühnerbouillon gebracht.«
»Na«, meinte Nick und tätschelte ihre Füße, »an Männern, die für dich sorgen wollen, scheint es jedenfalls nicht zu fehlen.«
Bis auf meinen Mann, dachte Bonnie.
»Bis auf deinen Mann«, sagte Nick.
Wie auf Kommando läutete das Telefon. Es war Rod. »Du liegst immer noch im Bett?« fragte er ungläubig.
»Ich werd’ diese Geschichte einfach nicht los.«
»Was hat denn der Arzt gesagt?«
»Er wollte spätestens morgen anrufen, um mir die Untersuchungsergebnisse mitzuteilen«, antwortete Bonnie, den Blick auf Nick gerichtet, der rastlos zwischen dem Bett und dem Fenster hin und her ging.
»Was machen die Kinder?« fragte Rod.
»Denen geht es gut. Lauren ist gesund. Außer mir ist niemand krank.« Gott sei Dank, dachte Bonnie.
»Wann kommt er nach Hause?« fragte Nick.
»Wie?« sagte Rod. »Wer war das? Ist dieser Lehrer wieder da?«
»Das war Nick«, erklärte Bonnie.
»Nick! Was, zum Teufel, hat der bei dir zu suchen?«
»Ich kümmere mich um meine Schwester!« Nick riß Bonnie den Hörer aus der Hand und sprach wütend hinein. »Eigentlich wäre das Ihre Aufgabe.«
»Nick!« protestierte Bonnie, aber es war ein schwacher, halbherziger Protest.
»Was, zum Teufel, geht da eigentlich vor?« rief Rod so laut, daß sogar Bonnie ihn hören konnte.
»Ihre Frau ist krank. Sie ist vor einer Stunde ohnmächtig geworden, und es war ein Glück, daß ich zur Stelle war, um sie aufzufangen, als sie stürzte.«
»Sie ist ohnmächtig geworden?«
»Wann kommen Sie nach Hause?« fragte Nick wieder.
»Ich habe einen Flug am Samstag vormittag.«
»Sie sollten Ihre Pläne ändern«, sagte Nick.
Einen Moment herrschte geladenes Schweigen, dann hörte Bonnie Rod sagen: »Lassen Sie mich mit Bonnie sprechen«, und Nick reichte ihr den Hörer zurück.
»Rod...«
»Was, verdammt, ist denn eigentlich los, Bonnie?«
»Es geht mir nicht gut, Rod.«
»Du möchtest, daß ich früher nach Hause komme?« Sein Ton bettelte um ein einfaches »Nein«.
Bonnie schloß ihre Augen, schluckte, schmeckte Blut. »Ja«, antwortete sie.
Wieder dieses unbehagliche Schweigen. »Also gut«, sagte Rod schließlich. »Ich werd’ sehen, ob ich morgen einen Flug bekommen kann.«
Bonnie begann zu weinen. »Es tut mir so leid, Rod. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst.«
»Hab’ keine Angst, Liebes.« Es war Rod anzuhören, wie sehr er sich bemühte, teilnahmsvoll zu sprechen. »Es ist nur eine schlimme Grippe. Bis ich zu Hause bin, wird es dir wahrscheinlich schon wieder bessergehen.«
»Hoffentlich.«
»Gut, also, ich werde jetzt gleich versuchen umzubuchen. Ich sehe dich morgen, Liebes. Verlier nicht den Mut. Versuch zu schlafen. Und schmeiß deinen Bruder raus. Dir ging’s doch prächtig, bevor er aufkreuzte.«
Bonnie gab Nick den Hörer. Als er ihn auflegte, bemerkte sie zum erstenmal, wie kräftig und muskulös seine Arme waren. Na ja, im Gefängnis hat man viel Zeit zu körperlicher Ertüchtigung, dachte sie, während ihr immer noch Rods Worte im Kopf herumspukten. Dir ging’s doch prächtig, bis er aufkreuzte. Ich habe geglaubt, wenn ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetze, ginge es mir besser, dachte Bonnie und kroch wieder unter die Decke. »Er kommt morgen nach Hause«, hörte sie sich sagen, bevor sie wieder einschlief.
Als sie das nächste Mal erwachte, war es dunkel. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und war sofort schweißgebadet.
»Bonnie?« sagte jemand aus der Dunkelheit.
Bonnie stieß einen erstickten Schrei aus und versuchte im Dunkeln etwas zu erkennen. Sie zog die Decke um sich und überlegte, ob sie wach war oder schlief.
»Ist ja gut. Ich bin’s, Nick.« Die Stimme kam näher.
Bonnie sah ihn jetzt, sah das lange, dunkelblonde Haar, die kräftigen Arme, die merkwürdig zarte Nase in diesem so männlichen Gesicht.
»Wie spät ist es?« fragte sie. Wie oft hatte sie diese Frage in letzter Zeit schon gestellt? Spielte es
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