Flieh Wenn Du Kannst
daß da drinnen jemand eingesperrt war, und sie trat näher.
»Gib acht auf Schlangen«, warnte Rod, als Bonnie in den langen Schacht kroch.
»Ist da jemand?« rief Bonnie. Ihre Stimme prallte von den Tunnelwänden zurück und schlug ihr ins Gesicht wie ein scharfer Wind.
»Mami?« rief ein Kind mit dünner Stimme. »Mami, hilf mir. Hilf mir.«
»Amanda?« stieß Bonnie erschrocken hervor und kroch eilig der Stimme entgegen. Doch je näher sie kam, desto länger wurde der Tunnel, desto größer der Abstand zu der kleinen Stimme. Schmutz von den Wänden des Tunnels begann auf Bonnies Kopf zu fallen und drohte, sie lebendig zu begraben.
»Mami!« rief Amanda wieder, und das Wort ging in das nun schon vertraute Wimmern über.
»Amanda!« schrie Bonnie angstvoll und griff mit verzweifelt suchender Hand in die Dunkelheit.
Ihre Hand berührte die kalte Luft der Realität, und sie erwachte schweißüberströmt. O Gott, dachte sie, als sie sich im Bett aufsetzte und im Sessel die schlafende Gestalt ihres Bruders erkannte. Ein weiterer Alptraum für die Sammlung.
Da hörte sie das Wimmern wieder und begriff, daß es real war, daß es ihr Unbewußtes in ihren Traum eingebaut hatte. »Amanda«, flüsterte sie voller Angst. Sie sprang aus dem Bett und rannte auf den Flur, zum Zimmer ihrer Tochter, und mit jedem Schritt hörte sie das Wimmern lauter.
Als sie Amandas Zimmer erreichte, sah sie mit Schrecken, daß die Tür weit offen stand. Keuchend, zitternd, kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten, stürzte sie ins Zimmer und knipste das Licht an.
Amanda saß aufrecht in ihrem Bett. Ihr kleiner Oberkörper war fest an das Kopfbrett gepreßt, die Hände lagen über ihrem offenen Mund, ihre Augen waren weit aufgerissen, sie weinte. Die Decke lag auf dem Boden, rund um sie herum all ihre Plüschtiere, der rosarote Panther ganz oben, und unten, zu ihren Füßen, die lebende Schlange.
Bonnie schrie auf beim Anblick des beinahe surrealen Bildes.
Die Schlange hatte sich um Amandas nackten Fußknöchel gewunden und schob sich in gleichmäßig schwankendem Rhythmus Amanda entgegen.
»Mami!« rief Amanda leise, als sie Bonnie sah. »Sie drückt mir meinen Fuß ab, Mami. Sie tut mir weh. Mach, daß sie aufhört.«
Bonnie merkte, wie sie selbst zu schwanken begann, ihr der Kopf ganz leicht wurde. Gleich werde ich ohnmächtig, dachte sie; nein, nein, nein, ich darf jetzt nicht ohnmächtig werden. Ich werde jetzt nicht ohnmächtig! Sie mußte ihre Tochter retten. Nichts anderes zählte. Dies war ihr Kind, das ihr teurer war als ihr eigenes Leben. Niemals würde sie ihm etwas zustoßen lassen. Sie würde alles tun, um es zu beschützen.
Im nächsten Moment hatte sie das Gefühl, ihren Körper zu verlassen, ihn abzuwerfen, wie eine Schlange ihre Haut abwirft. Sie war schwerelos, als sie auf Amandas Bett zuflog, ohne zu denken, von Instinkt und Reflex getrieben. Sie stürzte sich auf die Schlange, packte sie mit der einen Hand beim Kopf, mit der anderen Hand riß sie an den festen Windungen des Schwanzes. Die Schlange wurde steif und schwer in ihren Händen, es war, als hätte sie nach einer Eisenstange gegriffen. Dann begann sie sich zu winden, ihr Kopf drückte gegen Bonnies Hand, ihr langer Körper spannte sich und wehrte sich heftig gegen die Umklammerung. Bonnie mühte sich verzweifelt, den Schlangenleib, der um den Fuß ihrer Tochter gewunden war, zu lösen, doch es war, als hätte die Schlange sich festgesogen. Sie ist zu stark, dachte Bonnie, nicht sicher, ob sie überhaupt die Kraft hatte, die Schlange festzuhalten.
Sie hörte Schreie, ihre eigenen, erkannte sie, während sie mit aller Kraft versuchte, die Schlange von Amandas Bein zu ziehen. Gleich, gleich, dachte sie, als ihre Finger sich unter die seidige Haut der Schlange gruben. Gleich hatte sie sie.
Sie zog fest, hörte ein Geräusch wie das Schmatzen eines Saugnapfes, der mit Gewalt losgerissen wurde, und dann war Amanda frei, und die Schlange wand sich mit peitschendem Leib in ihren Armen. Sie ist so schwer, dachte sie, sie hat so viel Kraft, lange würde sie sie nicht mehr halten können, das wußte sie, aber da hörte sie Stimmen und drehte sich um und sah Nick, der wie ein Wahnsinniger ins Zimmer stürmte, beide Arme ausgestreckt, in den Händen eine Pistole, die direkt auf ihren Kopf gerichtet war.
Sie schrie auf und vergaß einen Moment die Schlange. Ihre Hände öffneten sich, und die Schlange fiel zu Boden. Dumpf schlug sie auf den Teppich und richtete
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