Flieh Wenn Du Kannst
denn überhaupt eine Rolle? Hatte es je eine Rolle gespielt?
»Es ist nach zehn«, antwortete er.
»Nach zehn? Wo ist Amanda?«
»Sie schläft.«
»Und Sam und Lauren?«
»Die sind beide in ihren Zimmern.«
»Was tust du noch hier?«
»Ich passe auf dich auf.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Woher diese plötzliche Besorgnis?«
»Ich war immer um dich besorgt«, gab er zurück.
Es klopfte sachte an die Tür.
»Ja?« rief Bonnie schwach.
Sam kam leise herein. Sein Blick suchte in der Dunkelheit nach Bonnie. »Ich habe Stimmen gehört und dachte, ich schau’ mal, wie’s dir geht«, erklärte er. »Wie fühlst du dich?«
»Nicht besonders.«
»Helfen die Tabletten nicht?«
Bonnie rieb sich die Stirn. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letztemal eine Tablette genommen hatte. »Ich müßte jetzt wahrscheinlich wieder eine nehmen«, sagte sie.
»Wo sind sie?« fragte Nick.
»In der Küche.«
»Ich hol’ sie«, erbot sich Sam und war schon verschwunden.
»Er ist ein seltsamer Junge«, stellte Nick fest.
»Das warst du auch«, erinnerte Bonnie ihn. »Immer hast du Räuber und Gendarm gespielt. Nur warst du damals immer der Gute. Was ist dann passiert, Nick? Warum hast du die Seiten gewechselt?«
»Irgend etwas passiert immer«, antwortete Nick. »Die Menschen verändern sich eben.«
»Aber was ist passiert? Und wie verändern sie sich?«
Nick schob sich das Haar aus der Stirn. Ein merkwürdiger Ausdruck legte sich über sein Gesicht. Er sah sie mit einer Intensität an, die selbst die Dunkelheit nicht verbergen konnte. Sie merkte plötzlich, daß sie Angst hatte.
Was tat er hier? Warum war er in ihr Leben zurückgekehrt, und warum ausgerechnet jetzt? Was hatte er mit Joan zu tun gehabt? Mit ihrem Tod? Hatte er sie ermordet? Hatte er vor, auch seine Schwester zu ermorden? War das der Grund, warum er sich wieder in ihr Leben eingeschlichen hatte? War er deshalb heute abend hier? Sie fühlte sich so elend, daß es ihr beinah gleichgültig war. Tu es wenigstens schnell, flehte sie stumm, mach es kurz. Alles war besser als die Qual dieser letzten Wochen.
Tu nur meinem Kind nichts an, bettelte sie im stillen, als Nick sich abwandte. Der Gedanke ließ sie hochfahren. Ich muß stark bleiben, sagte sie sich. Ich darf nicht zulassen, daß Amanda etwas passiert.
»Ich hab’ dir auch etwas Suppe mitgebracht«, sagte Sam, als er mit einer dampfenden Tasse wieder ins Zimmer kam. Er legte ihr die Tablette in die geöffnete Hand und reichte ihr die Tasse mit der Bouillon. »Vorsicht, sie ist heiß. Ich hab’ sie in die Mikrowelle gestellt.«
Bonnie legte die Tablette auf ihre Zunge, blies auf die Suppe, schluckte dann. Als die Tablette unten war, trank sie noch einmal von der Suppe, verbrannte sich ein wenig die Zunge, schluckte dennoch.
»Was macht Dianas Badezimmer?« fragte sie.
»Es wird toll«, erklärte Sam stolz. »Ich glaube, sie wird sich freuen.«
»Ganz sicher wird sie das.« Bonnie trank wieder einen Schluck Bouillon.
»Sie kommt am Wochenende zurück. Dann werden wir’s sehen.« Sam trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich bin ziemlich müde«, sagte er. »Kann ich jetzt ins Bett gehen?«
»Aber natürlich«, erwiderte Bonnie.
»Ich finde auch allein hinaus«, sagte Nick.
Sam lächelte, trottete zur Tür, blieb noch einmal stehen. »Gute Besserung.«
»Danke.« Bonnie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Nick zu. »Du hast bestimmt anderes zu tun«, begann sie.
»Überhaupt nichts. Ich hatte eigentlich vor, die Nacht hierzubleiben.«
»Was? Nein, das ist doch lächerlich. Das geht doch nicht.«
»Und warum nicht? Ich schlaf’ hier in dem Sessel. Dann bin ich sofort da, wenn du etwas brauchst.«
»Ich brauche bestimmt nichts.«
»Ich gehe jedenfalls nicht«, erklärte Nick. Zuerst hörte sie das ängstliche Wimmern in ihrem Traum.
Sie stand mitten in der Schulkantine und wartete, mit einem Plastiktablett in der Hand, in der Schlange an der Selbstbedienungstheke. »Rücken Sie doch nach«, sagte jemand, und Bonnie ging ein paar Schritte vorwärts. Aus den Luftschlitzen zu ihren Füßen drang ein hohes, dünnes Pfeifen, das ihr um die bloßen Beine zu spielen schien.
»Stimmt mit den Rohren etwas nicht?« fragte sie Rod, der die Uniform des Schulhausmeisters trug.
»Schauen Sie doch selbst nach«, schlug er vor und zog den viereckigen Luftschlitz in der Wand neben seinen Beinen auf. Augenblicklich wurde das Wimmern lauter und deutlicher. Bonnie hörte deutlich,
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