Flieh Wenn Du Kannst
eilte.
14
Sobald Bonnie nach Hause kam, rief sie die Praxis Walter Greenspoons an.
»Praxis Doktor Greenspoon.« Die Stimme der Sekretärin klang belegt und rauchig, als hätte Bonnie sie gerade beim Genuß einer Zigarette gestört.
»Ich hätte gern so bald wie möglich einen Termin bei Doktor Greenspoon«, erklärte Bonnie, die ein weiteres Mal nicht begriff, was sie da eigentlich tat. Sie hatte nicht vorgehabt, Dr. Greenspoon anzurufen. Auf der Fahrt nach Hause hatte sie beschlossen, es allein der Polizei zu überlassen, den Mord an Joan zu klären, und sich selbst herauszuhalten. Aber wie konnte sie sich heraushalten, wenn sie doch praktisch mittendrin war, wenn sie und ihre Tochter sich möglicherweise in tödlicher Gefahr befanden.
»Sind Sie Patientin bei uns?«
»Bitte? Oh, nein, nein, ich war noch nie bei Ihnen.«
»Hm. Ich kann Ihnen frühestens am zehnten Juli einen Termin geben.«
»Am zehnten Juli? Das sind ja noch zwei Monate!«
»Doktor Greenspoon hat sehr viel zu tun.«
»Natürlich, das glaube ich, aber ich kann nicht so lange warten. Ich muß ihn sofort sehen.«
»Tut mir leid, aber das ist ausgeschlossen.«
»Warten Sie, legen Sie nicht auf«, sagte Bonnie hastig. »Mir ist eben etwas eingefallen. Wann ist Joan Wheelers nächster Termin?«
»Wie bitte? Ich verstehe nicht.«
»Ich bin Joan Wheelers Schwester«, behauptete Bonnie kühn.
Die Stimme der Sekretärin veränderte sich plötzlich, wurde weicher, persönlicher. »Ach so, mein Beileid. Wir waren sehr betroffen, als wir hörten, was Ihrer Schwester zugestoßen ist«, sagte sie.
»Danke«, erwiderte Bonnie, völlig verblüfft über die Dinge, die aus ihrem Mund kamen. »Ich weiß, daß Joan Doktor Greenspoon sehr geschätzt hat, und ich habe im Augenblick wirklich große Schwierigkeiten, mit der ganzen Sache fertigzuwerden. Deshalb dachte ich, ich könnte vielleicht Joans nächsten Termin wahrnehmen...« Sie hielt inne, unfähig, die Lüge noch weiter auszuspinnen.
»Leider haben wir die Stunde bereits vergeben«, antwortete die Sekretärin entschuldigend.
Bonnie nickte nur und war schon bereit, sich damit abzufinden. Siehst du, flüsterte ihr Gewissen, lügen bringt gar nichts.
»Aber wir haben am kommenden Freitag einen Termin frei«, fuhr die Sekretärin eilig fort. »Den könnte ich Ihnen vielleicht geben, obwohl das eigentlich gegen die Regeln verstößt. Könnten Sie um zwei Uhr kommen?«
»Selbstverständlich«, antwortete Bonnie hastig.
»Gut. Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«
»Bonnie Lonergan«, antwortete Bonnie, auf ihren Mädchennamen zurückgreifend, obwohl sie sich damit so unwohl fühlte wie mit einem zu klein gewordenen Schuh. Wieso war sie ausgerechnet auf Lonergan verfallen? Gerade diesen Teil ihres Lebens wollte sie doch dringend hinter sich lassen. Sie legte auf, ehe die Sekretärin es sich anders überlegen konnte. Freitag, vierzehn Uhr. Sie würde die letzte Unterrichtsstunde schwänzen müssen. Kein Problem. Sie würde dem Schulleiter sagen, sie habe wegen Sam und Lauren einen Termin bei einem Psychotherapeuten. Das war ja auch wahr. Zumindest teilweise. Sie hatte tatsächlich einen Termin bei einem Psychotherapeuten. Und irgendwann während der Sitzung würde sie zweifellos auf Sam und Lauren zu sprechen kommen. Vielleicht sogar ziemlich ausführlich. Es war also gar keine wirkliche Lüge.
Bonnie wurde sich plötzlich der Musik bewußt, die aus Sams Zimmer durch die Küchendecke drang. Aber Musik kann man das wohl kaum nennen, dachte sie, während sie verschiedene Gemüse aus dem Kühlschrank nahm, um den Salat vorzubereiten. Rhythmisches Tom-Tom war eine genauere Beschreibung – laut, aufdringlich, gnadenlos.
Sie stellte sich Sam vor, wie er mit offenem Hemd auf seinem Bett lag, an die Decke starrte und nachdachte. Worüber? Bonnie hatte keine Ahnung. Obwohl sie sich immer wieder um ihn bemüht hatte, verweigerte er ihr beharrlich sein Vertrauen. Und allen anderen auch. Er sprach mit keinem – nicht mit ihr, nicht mit Rod, nicht mit dem Schulleiter oder seinem Stellvertreter, nicht mit der Schulberatung oder dem Schulpsychologen, obwohl sie sich alle in der letzten Woche um ihn bemüht hatten. Es war zwecklos. Sam ging zur Schule, machte seine Arbeit, trieb sich mit seinen Freunden herum, spielte auf seiner Gitarre, fütterte seine Schlange, rauchte seine Zigaretten und hüllte sich im übrigen in Schweigen.
Lauren war nicht viel anders. Auch sie lehnte jede Hilfe ab und behielt
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