Flieh Wenn Du Kannst
zweiten Etage trat Bonnie aus dem Aufzug und sah sich erst einmal gründlich um. Die Wände waren blau; statt Picasso hing hier Matisse. Ein paar Schritte nach rechts, dem Schwesternzimmer gegenüber war ein Besucherraum. Auf einem Empfangstisch warteten mehrere Blumenarrangements auf Lieferung. Vielleicht hätte ich Elsa Langer ein paar Blumen mitbringen sollen, dachte Bonnie und klemmte die beiden Zeitschriften, die sie gekauft hatte, fester unter ihren Arm. Vogue und Bazaar . Die neueste Frühlingsmode. Genau das, was die Frau brauchte.
Mehrere Pflegerinnen, die angeregt miteinander schwatzten, blickten auf, als Bonnie sich näherte, musterten sie kurz und wandten sich wieder ihrem Gespräch zu. Der Kunde war hier offensichtlich nicht König. Bonnie wartete, den Blick zum Besucherraum gerichtet, und bemerkte eine junge Frau, die schweigend zwischen einem Mann und einer Frau mittleren Alters saß, wahrscheinlich ihren Eltern. Die Mutter war in Tränen aufgelöst, der Vater starrte mit leerem Blick vor sich hin, als könne er nicht glauben, daß ihm dies geschah. Eine andere Frau hatte ihren Arm um die Schultern eines jungen Mannes gelegt, der neben ihr saß und unaufhörlich wie besessen unsichtbare Fussel von seiner Hose zupfte. »Ist ja gut, ist ja gut«, murmelte die Frau immer wieder. »Ist ja gut.«
Bonnie wandte sich wieder den Pflegerinnen zu. »Entschuldigen Sie, könnten Sie mir sagen, wo Zimmer 312 ist?«
»Da runter«, antwortete eine der Pflegerinnen und zeigte ihr die Richtung, ohne auch nur aufzublicken.
»Danke.«
Einen Augenblick später stand Bonnie vor der geschlossenen Tür zu Zimmer 312. Und jetzt? Sollte sie klopfen? Oder einfach hineinplatzen? Vielleicht wäre es das beste, umzukehren und nach Hause zu fahren.
»Herein«, rief jemand, ehe Bonnie einen Entschluß gefaßt hatte.
Bonnie atmete einmal tief durch und stieß die Tür auf.
In einem Rollstuhl beim Fenster saß eine Frau. Sie hatte braunes Haar, gefärbt, wie man an den weißen Wurzeln sah, und ihre Haut war von Leberflecken und Altersflecken übersät. Ihre Beine, formlos und dick wie zwei Holzklötze, sahen unter einem rosafarbenen gesteppten Morgenrock hervor. Selbst in sitzender Haltung war sie eine imposante Gestalt. Wie ihre Tochter, dachte Bonnie mit Unbehagen, obwohl sie sonst kaum Ähnlichkeit mit Joan entdecken konnte.
»Woher wußten Sie, daß ich da war?« Bonnie trat ins Zimmer und fühlte den leichten Lufthauch, als die Tür hinter ihr zufiel. Hatte die Frau ihre Anwesenheit gespürt? Hatte sie geahnt, daß sie kommen würde?
»Ich hab’ Schritte gehört«, antwortete die Frau. »Und vor der Tür haben sie plötzlich aufgehört.«
Bonnie lachte. So einfach war das also. Wie schnell sind wir doch dabei, dachte sie, das Offensichtliche zu übersehen.
»Sind Sie Elsa Langer?« fragte sie.
»Vielleicht.« Die Frau glättete ihren Morgenrock über den massiven Knien. »Wer fragt?«
»Bonnie – Bonnie Wheeler.«
Die Frau zog die schmalen Brauen über der großen Nase zusammen.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Bonnie trat ein paar Schritte näher zu der Frau und legte ihr die Zeitschriften auf den Schoß.
Die Frau sah kurz hinunter, dann richtete sie ihren Blick wieder auf Bonnie. »Danke schön. Wie heißen Sie gleich wieder?«
»Bonnie. Bonnie Wheeler«, antwortete Bonnie und betonte ihren Nachnamen in der Hoffnung, er würde bei der Frau eine Reaktion auslösen. Als nichts geschah, fügte sie hinzu: »Ich habe Joan gekannt.«
»Ach?«
»Ja.« Bonnie fragte sich, was sie als nächstes sagen sollte. Wußte die Frau, daß ihre Tochter tot war? Hatte jemand es ihr gesagt?
»Ich hab’ auch mal eine Joan gekannt.«
Bonnie nickte.
Die Frau begann plötzlich merkwürdige Mundbewegungen zu machen. Als kaute sie auf etwas Widerspenstigem herum, schob sie ihre Lippen vor und zurück, mahlte hin und her, drückte schließlich den oberen Teil einer Zahnprothese heraus, hielt ihn einen Moment auf ihrer Zungenspitze und schob ihn mit einem Klappern wieder zurück.
»Hat jemand mit Ihnen über Joan gesprochen?« fragte Bonnie. Sie vermied es, die Frau anzusehen, die schon wieder versuchte, ihre Prothese aus dem Mund zu schieben.
»Joan ist tot«, sagte die Frau nuschelnd, immer noch ihre Prothese hin und her schiebend.
»Ja«, bestätigte Bonnie, während ihr Blick über die blauen Wände, die kleine Kommode, die beiden Krankenbetten wanderte. Eines der Betten war ordentlich gemacht, das andere hatte man
Weitere Kostenlose Bücher