Flieh Wenn Du Kannst
ihrem Schrank ging und in ihren Bademantel schlüpfte. Die Chiffonschals schob sie in die Ärmel und eilte zum Badezimmer am Ende des Flurs. Nur ein paar Sekunden noch, und es wäre vorüber gewesen, ihr Körper wäre befriedigt gewesen, ihre Hände frei.
Hatte Rod recht? War es wirklich so dunkel gewesen, daß Lauren gar nicht hatte erkennen können, was vorging? Oder hatte sie vielleicht doch alles gesehen? Meine Stiefmutter, die Perverse, dachte Bonnie, als sie sich dem Badezimmer näherte, durch dessen Tür die unverkennbaren Geräusche von Würgen und Erbrechen drangen. Bonnie holte einmal tief Atem, dann ging sie hinein.
Lauren kniete gekrümmt vor der Toilette. Ihr rotes Haar klebte ihr feucht auf der Stirn, ihr Gesicht war aschfahl, ihr Körper zuckte in immer neuen heftigen Anfällen von Brechreiz. Rod stand am Fenster und sah aus, als wollte er sich ebenfalls gleich übergeben.
»Geh wieder ins Bett«, sagte Bonnie zu ihm. »Ich mach’ das schon.«
Das ließ sich Rod nicht zweimal sagen. Er verzog kurz den Mund zu einem, wie es schien, dankbaren Lächeln, dann war er verschwunden. Bonnie ging zum Waschbecken, tauchte einen Waschlappen in kaltes Wasser und drückte ihn Lauren an die Stirn.
»Atme tief durch«, riet sie, als Lauren ihre Hand wegstieß. »Komm, Schatz. Du mußt tief durchatmen. Das hilft.«
Lauren versuchte, ihrem Rat zu folgen. Ein paar Sekunden lang sah es aus, als wäre es vorbei, dann begann sie wieder zu würgen. Von neuem versuchte Bonnie, Lauren die kühle Kompresse an die Stirn zu legen. Wieder wurde sie zurückgestoßen.
Das Abendessen, das sie heute gemacht hatte, war Lauren offensichtlich aus irgendeinem Grund nicht bekommen. Bedrückt setzte sich Bonnie auf den Rand der Badewanne und fragte sich, warum sie Rod weggeschickt hatte. Lauren wollte nicht sie hier haben. Sie hatte ihren Vater gerufen. Und sie selbst – Bonnie – konnte sich angenehmeres vorstellen, als den Rest der Nacht hier zu sitzen und zuzusehen, wie Lauren sich übergab. Dennoch ging sie nicht. Sie wartete, spürte, wie allmählich die Kühle des Wannenrands durch ihren warmen Bademantel drang. Du bist ein gutes Kind, hörte sie ihre Mutter sagen.
»O Gott, mir ist so schrecklich schlecht«, stöhnte Lauren weinend.
»Ach, Schatz, ich wollte, ich könnte etwas tun, damit es dir besser geht.« Wieder schoß Bonnie die Frage durch den Kopf, ob Lauren gesehen hatte, daß ihre Hände an die Bettpfosten gefesselt waren. Ob sie das zusätzlich belastete? »Das hier hilft vielleicht«, sagte sie und hielt dem jungen Mädchen noch einmal den feuchten Waschlappen hin. Diesmal stieß Lauren sie nicht zurück, sondern ließ sich das feuchte Tuch auf die Stirn drücken. »Ist es besser so?«
»Ein bißchen, ja.«
»Atme weiter tief durch«, riet Bonnie.
»Ich hab’ so fürchterliche Magenschmerzen. Ich hab’ ein Gefühl, als würde ich gleich sterben.«
»Nein, sterben wirst du bestimmt nicht, das verspreche ich dir. Du fühlst dich sicher bald wieder besser.«
Lauren sank kraftlos gegen die Wand, und Bonnie nahm sie in ihre Arme. Sie tupfte dem Mädchen die Stirn ab und drückte ihr das feuchte Tuch dann in den Nacken. »Wie ist das?«
»Ein bißchen besser.«
»Gut.«
So blieb sie fast eine Stunde lang sitzen.
»Glaubst du, du kannst jetzt wieder ins Bett gehen?« fragte Bonnie schließlich, der es nicht mehr gelang, den unangenehmen Geruch in dem kleinen Raum zu ignorieren. Sie hatte das Gefühl, ihr würde auch gleich übel werden.
Lauren nickte und ließ sich von ihr in die Höhe ziehen. Bonnie legte Lauren einen Arm um die Taille und hielt mit der anderen Hand ihre zitternden Hände.
»Ganz langsam«, mahnte sie. »Wir haben es überhaupt nicht eilig.«
»Was ist das?« fragte Lauren plötzlich und wies mit dem Kopf auf Bonnies Handgelenk. Ein lavendelfarbener Chiffonschal hing aus dem Ärmel ihres Bademantels.
Bonnie zog hastig ihre Hand weg und schob mit den Fingern den Schal wieder in den Ärmel. »Ach, das ist nichts«, antwortete sie. »Das Futter ist zerrissen...« Sie sprach nicht weiter.
»Es tut mir leid, daß ich dich und Daddy gestört habe«, sagte Lauren.
»Du hast uns nicht gestört«, versicherte Bonnie rasch, während sie sich wiederum fragte, was Lauren gesehen hatte. Sie konnte nur hoffen, daß Rod recht hatte und es zu dunkel gewesen war, um irgend etwas zu erkennen.
Sie half Lauren in ein frisches Nachthemd und packte sie dann ins Bett. Bevor sie ging, neigte sie sich
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