Flieh Wenn Du Kannst
besser. Der Geruch der ihr entgegenschlug, war stark und würzig.
»Hallo?« rief sie. Kochte da jemand etwas?
»Wir sind in der Küche«, rief Lauren zurück.
Na, das hört sich ja ganz gesund und munter an, dachte Bonnie und fragte laut: »Wem gehört denn das Auto, das vor dem Haus steht, Lauren?«
Er stand vor dem Herd, den Kopf über einen großen Kochtopf geneigt. Sie sah nur seinen Rücken, die schmalen Hüften in den engen Jeans, das blonde Haar, das nach vorn fiel. In der rechten Hand hielt er einen großen Holzlöffel. Noch ehe er sich umdrehte, sah Bonnie sein Gesicht vor sich und sein spitzbübisches Lächeln.
»Was tust du denn hier?« fragte sie so leise, daß sie selbst nicht sicher war, ob sie die Worte ausgesprochen hatte.
Er drehte sich auf dem Absatz seines braunen Lederstiefels um und schaute sie an. »Ich dachte, du wolltest mich sehen«, sagte er, »und fand, es wäre höchste Zeit, daß ich meine große Schwester einmal besuche.«
Im ersten Moment war Bonnie sprachlos. Nicholas Lonergan, schlank, braungebrannt und fit wie eh und je, führte den Holzlöffel an seine Lippen und leckte die leuchtendrote Soße ab. Bonnies Blick flog zu Lauren, die in ihrem blauen Morgenrock am Küchentisch saß. Ihr Gesicht hatte wieder Farbe. Ihr Blick wanderte zwischen Bonnie und Nick hin und her, als säße sie in Wimbledon in der ersten Reihe.
»Ich versteh’ das nicht«, sagte Bonnie zu ihr und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Er kreuzt hier auf, und du läßt ihn einfach herein?«
»Er ist doch dein Bruder. Ich dachte, du hättest nichts dagegen.«
»Woher hast du gewußt, daß er mein Bruder ist?« fragte Bonnie mit erhobener Stimme. »Er hätte doch irgend jemand sein können.«
»Ich hab’ doch die Fotos im Album meiner Mutter gesehen«, gab Lauren aufgebracht zurück.
»Aber, aber meine Damen«, warf Nick mit einer Gelassenheit ein, die Bonnie wütend machte. »Meinetwegen sollten Sie sich wirklich nicht in die Haare kriegen. Bitte, seid nett zueinander.«
Bonnie schloß einen Moment die Augen. Sie hatte das Gefühl zu schwanken. Bitte, laß das einen bösen Traum sein, betete sie. Bitte, gib, daß er nicht mehr da ist, wenn ich die Augen wieder aufmache.
»Es tut mir leid, wenn ich was falsch gemacht habe.« Laurens Worte holten Bonnie in die Realität zurück. »Er ist doch dein Bruder. Kann ja sein, daß er Mist gebaut hat, aber er hat doch dafür bezahlt.«
»Das habe ich«, bestätigte Nick, und der Klang seiner Stimme zwang Bonnie, ihre Augen zu öffnen. »Und eines hab’ ich im Knast gelernt: wie man anständig kocht. Es gibt garantiert niemanden, der eine schärfere Tomatensoße macht als ich.« Er lachte und entblößte den angeschlagenen Zahn, den er sich als Halbwüchsiger bei einem Faustkampf eingehandelt hatte. Schon damals ein harter Bursche, dachte Bonnie. »Nun komm schon, Bonnie, sei nicht so verbissen. Mach’s dir gemütlich. Setz dich, und genieß die Künste eines erstklassigen Kochs...«
»Es riecht köstlich«, sagte Lauren.
»Dir geht es offensichtlich besser«, bemerkte Bonnie.
Lauren nickte. »Ich bin so gegen zehn aufgewacht, und alles war vorbei. Ja, es geht mir viel besser.«
»Na, das ist wenigstens ein Trost«, meinte Bonnie. Sie vermied es, ihren Bruder anzusehen, während sie überlegte, wie sie sich ihrem Bruder gegenüber verhalten sollte.
»Nick ist vor ungefähr einer Stunde gekommen. Er hat mir eine Tasse Tee gemacht.« Lauren hielt als Beweis ihre leere Tasse hoch.
»Ein richtiger guter Samariter.«
»Möchtest du auch eine Tasse?« fragte Nick.
»Nein. Ich möchte wissen, was das soll, Nick«, entgegnete Bonnie, unfähig, sich länger zurückzuhalten. »Was hast du hier in meiner Küche zu suchen?«
»Ich koche dir das Abendessen«, antwortete Nick.
»Ich brauche dich nicht, um mein Abendessen zu kochen.«
»Ich wollte etwas für dich tun.«
»Ich finde, du hast schon genug getan.«
»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte Nick nach einer Pause. »Ich kann die Vergangenheit nicht ändern.«
»Nick hat mir erzählt, wie es im Gefängnis ist«, warf Lauren ein.
Bonnie sagte nichts. Ihr Blick war auf das Gesicht ihres Bruders gerichtet. Hinter den Zügen des erwachsenen Mannes war noch immer das Gesicht des Jungen zu erkennen. Er hatte immer ein interessantes Gesicht gehabt, auch als Kind schon. Ein sehr ausdrucksstarkes Gesicht, dessen Mienenspiel sich unter dem Eindruck von Stimmungen und äußeren Gegebenheiten ständig
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