Flieh Wenn Du Kannst
veränderte, ein Gesicht, das ebenso herzlich und liebevoll wirken konnte wie hart und zynisch. Ein Gesicht voller Überraschungen, wie ihre Mutter immer gesagt hatte.
»Du siehst gut aus«, sagte sie schließlich beinahe widerwillig.
»Danke. Du auch.«
Bonnie lehnte sich an die Arbeitsplatte, froh, einen Halt zu haben. »Ich höre, du hast einen Job.«
»Stimmt genau. Ich bin jetzt in der Touristikbranche. Wenn du mal eine Reise unternehmen willst, brauchst du mich nur anzurufen. Ich kann dir die besten Angebote besorgen.«
»Ich werd’s mir merken.«
»Mein Dad fliegt Ende nächster Woche nach Florida«, bemerkte Lauren. »Mit Marla Brenzelle.«
»Tatsächlich.« Es war mehr Kommentar als Frage.
»Die haben da irgendeine Konferenz in Miami«, fuhr Lauren fort. »Er ist fast eine ganze Woche weg.«
Bonnie warf Lauren einen zornigen Blick zu. Was, zum Teufel, war mit dem Mädchen los? Sie hatte seit dem Tod ihrer Mutter kaum zwei Worte gesprochen, und jetzt redete sie wie ein Wasserfall.
»Findest du es klug, deinen Ehemann mit einer Marla Brenzelle nach Miami abhauen zu lassen?« fragte Nick, den Bonnies Unbehagen offensichtlich erheiterte. »Das ist doch eine ganz heiße Nummer.«
Wenn du’s gern gesteppt hast, hätte Bonnie am liebsten gesagt, verkniff es sich aber. Dies war nicht die Zeit und nicht der Ort, um mit ihrem Bruder wegen einer Bagatelle Streit anzufangen. Es gab viele wichtige Fragen, die nach einer Aussprache verlangten, Fragen von entscheidender Bedeutung, die beantwortet werden mußten. Welcher Art war deine Beziehung zu Joan Wheeler? Wieso steht dein Name in ihrem Adreßbuch? Wo warst du an dem Tag, an dem sie ermordet wurde? Hast du sie getötet? Wieso hast du dich, kurz bevor jemand einen Eimer Blut über meinem Kind ausschüttete, auf dem Schulgelände herumgedrückt? Hast du vielleicht meine kleine Tochter so erschreckt? Was willst du noch in meinem Leben?
Aber sie konnte ihm jetzt, da Lauren bei ihnen in der Küche saß, keine Fragen über Joan stellen. Und sie konnte ihn auch nicht nach ihrer kleinen Tochter fragen, da sie wußte, daß Pam Goldenberg Amanda jeden Moment nach Hause bringen würde. Unmöglich, jetzt eine Diskussion mit ihm anzufangen, da gleich Diana zum Abendessen kommen würde.
»Du lieber Gott«, murmelte sie. Diana hatte sie ganz vergessen. Sie hatte überhaupt nichts eingekauft; sie hatte nichts vorbereitet; sie hatte Rod nicht auf Dianas Besuch vorbereitet.
»Ist was?« fragte Nick.
»Wieviel Tomatensoße hast du gemacht?« fragte Bonnie.
»Genug für die ganze Nachbarschaft«, antwortete Nick prompt.
»Gut«, sagte Bonnie und sah zum Fenster hinaus, als Joans roter Mercedes vorfuhr und Sam und Haze ausstiegen. »Sieht aus, als würden wir soviel brauchen.«
»Möchtest du mir nicht sagen, was hier los ist?« fragte Rod mit gedämpfter Stimme dicht an Bonnies Ohr und wies mit dem Kopf zum Wohnzimmer voller Menschen. Diana, sehr schön in Weiß und Schwarz, hatte Amanda auf ihrem Schoß und las ihr eine Geschichte vor. Sam, der nicht weit entfernt auf dem grünen Sofa saß, beobachtete die beiden, hörte vielleicht sogar zu. Lauren hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht, und Haze, der neben ihr auf der Armlehne des Sessels hing, neigte sich hin und wieder zu ihr hinunter, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Nick war gerade wieder in der Küche verschwunden, um seine angeblich schärfste Pasta der Welt zu vollenden.
»Nick war schon hier, als ich nach Hause kam«, erklärte Bonnie leise. »Er hatte schon angefangen zu kochen. Dann kam Sam mit Haze und fragte, ob er bleiben könnte. Und ich hatte völlig vergessen, daß ich Diana eingeladen hatte...«
»Schaffst du das denn alles?«
»Überraschenderweise ganz hervorragend«, bekannte Bonnie. »Du wirst es nicht glauben, aber es macht mir sogar Spaß. Es ist schön, das Haus voller Leute zu haben, und sie scheinen sich alle ganz gut zu unterhalten. Wie geht’s dir?«
Rod gab ihr einen Kuß auf die Nasenspitze. »Na ja, das ist nicht gerade der gemütliche Abend allein mit meiner Frau, den ich erwartet hatte, aber ich denke, ich werd’s überstehen.«
Bonnie nickte. Sie hatte in den letzten Tagen gelernt, daß man sich auf nichts verlassen konnte. Nichts, so schien es, entwickelte sich je erwartungsgemäß, niemand verhielt sich berechenbar. Ihr Bruder zum Beispiel, der Goldjunge, der zu den schönsten Hoffnungen Anlaß gegeben und dann sein Studium hingeworfen hatte, um ziellos durchs Land
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