Flieh Wenn Du Kannst
zu vagabundieren und in der Unterwelt zu verschwinden; er tauchte erst wieder auf, als ihm das Geld ausgegangen war, und dann landete er im Gefängnis. Wieso stand er plötzlich in ihrer Küche am Herd und kochte vergnügt ein Abendessen für acht Leute? Und Haze, der regelmäßig ihren Unterricht störte, der sie bedroht und in letzter Zeit mehrmals ihre Stunden geschwänzt hatte, fand offensichtlich überhaupt nichts dabei, sich bei ihr zum Abendessen einzuladen.
Und mir selbst macht das Ganze auch noch Spaß, dachte Bonnie verwundert und gab Rod einen liebevollen Klaps auf den Arm, ehe sie in die Küche ging. Vielleicht war jetzt der richtige Moment für ein Gespräch unter vier Augen mit Nick.
Er war gerade dabei, eine Zwiebel zu hacken, als sie kam, und führte das Messer mit lässiger Präzision.
»Komm mir nur nicht zu nahe«, warnte er sie, ohne sich umzudrehen, als hätte er sie erwartet. »Sonst fängst du noch an zu weinen.«
Ja, das paßt, dachte Bonnie. Die Zwiebel schien ihr ein geeignetes Bild für die letzten Wochen ihres Lebens zu sein. Unter jeder Schicht neue Schichten verborgen. Je mehr Geheimnisse sie enthüllte, desto mehr Geheimnisse blieben, schützende Hüllen um das Skelett im Zentrum. Je näher sie dem Zentrum kam, desto schärfer der Biß der Zwiebel, desto größer die Wahrscheinlichkeit von Tränen.
»Wie gut hast du Joan gekannt?« fragte Bonnie ohne Umschweife.
»Das willst du mich doch gar nicht fragen«, entgegnete Nick, während er die Zwiebelwürfel in die Sauce kippte und umrührte.
»Ach nein?«
»Du möchtest wissen, ob ich sie getötet habe«, sagte er, immer noch mit dem Rücken zu ihr.
»Hast du es getan?«
»Nein.« Er drehte sich um und lächelte. »Na siehst du, wie einfach das war?«
»Was bestand da für eine Verbindung, Nick? Wieso stehen dein Name und deine Telefonnummer in Joans Adreßbuch?«
»Ich hab’ sie vor einiger Zeit mal angerufen«, erklärte Nick nach einer kurzen Pause. »Ich hab’ sie gebeten, sich nach einem Haus für mich umzuhören. Ich will ja schließlich nicht auf Dauer bei Dad wohnen.«
Bonnie schüttelte ungläubig den Kopf. »Willst du mir vielleicht erzählen, daß du auf Wohnungssuche warst und dir ganz zufällig ausgerechnet die geschiedene Frau meines Manns als Maklerin genommen hast? Willst du mir das allen Ernstes weismachen? Daß es Zufall war?«
»Nein, natürlich war es kein Zufall.« Ein Anflug von Ungeduld schwang in Nicks Stimme. »Ich wußte, wer Joan war, als ich sie anrief. Vielleicht dachte ich, es wäre ganz witzig. Vielleicht wußte ich, daß du davon hören würdest. Vielleicht wollte ich nur mal hören, wie es dir geht.«
»Es hätte einfachere Möglichkeiten gegeben, herauszufinden, wie es mir geht.«
»Du hast ja nicht den geringsten Zweifel daran gelassen, daß du mit mir nichts mehr zu tun haben wolltest«, erinnerte Nick sie.
»Mit gutem Grund«, entgegnete Bonnie.
»Bist du immer noch sauer, weil Mutter dich enterbt hat?« fragte er sehr direkt.
Sofort schössen Bonnie die Tränen in die Augen. Wein jetzt bloß nicht, sagte sie sich. »Sie hat mich nicht enterbt...«
»Ich habe das nicht veranlaßt, Bonnie. Ich hatte damit überhaupt nichts zu tun.«
»Nein, du hast ja nie schuld, stimmt’s? Du bist immer nur der unbeteiligte Unschuldsengel, der von einer Katastrophe in die nächste schlittert.« Zornig wischte sich Bonnie die Tränen weg. Verdammt noch mal, warum mußte sie immer gleich losheulen?
»Ich hab’ dir ja gesagt, du sollst mir nicht zu nahe kommen.« Nick zog ein Papiertaschentuch aus seiner Jeans und reichte es ihr.
Bonnie nahm es widerstrebend, wischte sich die Augen und schneuzte sich.
»Was hättest du denn mit dem Haus angefangen?« fragte Nick. »Du konntest es doch kaum erwarten, von dort wegzukommen. Du hast geschuftet wie eine Wahnsinnige, um gute Noten zu kriegen, du hast gejobt, um dein Studium zu bezahlen und möglichst weit von uns wegzukommen...«
»Das ist nicht wahr.«
»Nein?« Er sah sich in der Küche um. »Und du hast es geschafft. Ich meine, man muß sich ja hier nur umschauen, um zu sehen, daß du es geschafft hast. Ein schönes Haus, einen ordentlichen Beruf, einen erfolgreichen Ehemann, eine süße kleine Tochter.«
»Laß sie in Ruhe, Nick.«
»Ich glaube, sie mag mich.«
»Ich meine es ernst, Nick.«
»Ich auch. Ich glaube wirklich, sie hat mich auf Anhieb in ihr Herz geschlossen. Und dabei wußte sie nicht einmal, daß sie einen Onkel Nick hat.
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