Flieh Wenn Du Kannst
geführt.
»Glauben Sie wirklich, ich könnte Joan getötet haben?«
»Ich weiß selbst nicht mehr, was ich eigentlich glaube«, bekannte Bonnie. »Ihr Name stand in ihrem Adreßbuch; ich habe Sie bei ihrer Beerdigung gesehen; Sie wollten nicht mit mir sprechen; Sie sind mir bewußt aus dem Weg gegangen. Warum? Warum wollten Sie nicht mit mir sprechen?«
»Ich hatte Angst«, erklärte er unumwunden. »Ich bin gerade in eine neue Stadt gezogen, um mein Leben wieder in den Griff zu bekommen, und dann wird die erste Person, mit der ich hier Freundschaft geschlossen habe, ermordet. Und nicht nur das, sondern ich werde auch noch von der Polizei vernommen. Das ist selbst für jemanden, der in New York gelebt hat, ganz schön beängstigend.«
»Was hat die Polizei Sie denn gefragt?«
»Vor allem hat man mich nach Ihnen gefragt.«
»Nach mir?«
»Ja, was für einen Eindruck ich von Ihnen habe, ob ich Sie für seelisch stabil hielte, ob Joan mir gegenüber je angedeutet hätte, daß sie vor Ihnen Angst hatte.«
»Ob Joan vor mir Angst hatte?«
»Sie ließen keinen Zweifel daran, daß Sie ihre Hauptverdächtige waren.«
Bonnie lachte. »Kein Wunder, daß Sie nicht mit mir reden wollten.«
»Das war schon ein bißchen beunruhigend, ja.«
»Und wieso haben Sie es sich dann doch anders überlegt?«
»Das haben Sie bewirkt«, antwortete er, und sein Lächeln wurde ein wenig kühner. »Je länger ich darüber nachdachte, desto lächerlicher erschien mir die Vorstellung, daß Sie einen Menschen erschießen könnten. Und als ich Sie dann heute abend im Lehrerzimmer sah – Sie waren so ängstlich und wirkten so verletzlich -, fand ich mein Verhalten nur noch absurd und sagte mir, daß Joan mich bestimmt überhaupt nicht verstanden hätte.«
»Joan? Wieso? Wie meinen Sie das?« »Sie hat Sie gemocht. Sie hat einmal gesagt, sie glaubte, wenn Sie einander unter anderen Umständen begegnet wären, wären sie wahrscheinlich gute Freundinnen geworden.«
»Das bezweifle ich«, entgegnete Bonnie, bei der diese Vorstellung Unbehagen hervorrief.
»Sie sind einander gar nicht unähnlich, wissen Sie das?«
»Joan und ich waren einander überhaupt nicht ähnlich«, behauptete Bonnie, deren gute Laune im Begriff war, sehr rasch zu verfliegen.
»Äußerlich nicht, nein, aber in anderer, wichtigerer Hinsicht...«
»Ich habe nie ein Alkoholproblem gehabt, Mr. Freeman.«
»Davon hab’ ich auch nicht gesprochen«, versetzte er. »Ich dachte mehr an Joans Ehrlichkeit, ihre Beharrlichkeit, ihren Humor.«
»Hat Joan zu Ihnen jemals etwas über meine Tochter gesagt?« fragte Bonnie, das Thema wechselnd.
»Nur, daß sie ein niedliches kleines Mädchen sei.«
»Sonst nichts?«
»Soweit ich mich erinnere, nein.«
»Und über meinen Bruder?«
»Ihren Bruder?«
»Nick Lonergan.«
Er sah sie verständnislos an. »Der Name sagt mir nichts.« Er neigte sich ein wenig zu ihr und sah sie so intensiv an, daß sie nicht umhin konnte, seinen Blick zu erwidern. »Was haben diese Fragen zu bedeuten, Bonnie? Wovor haben Sie Angst?«
Bonnie antwortete nicht gleich. Dann seufzte sie. »Ich habe Angst, daß die Person, die Joan getötet hat, es auch auf meine kleine Tochter und mich abgesehen hat. Ich habe Angst, daß niemand glaubt, daß wir in Gefahr sind. Daß man es erst glauben wird, wenn es zu spät ist.« Sie begann zu weinen.
Wie in einem Reflex streckte er die Arme nach ihr aus und zog sie an sich, hielt sie fest und ließ sie weinen.
»So ist es gut«, sagte er nach einer Weile tröstend, als wäre sie ein Kind. »Weinen Sie sich richtig aus. Das tut gut.«
»Ich hab’ solche Angst, daß jemand meinem Kind etwas antut«, stieß sie schluchzend hervor. »Und daß ich nichts dagegen tun kann. Und ich bin so müde und fühl’ mich so elend, und dabei werde ich doch nie krank, verdammt noch mal. Ich werde nie krank.«
»Niemand wird Ihrer kleinen Tochter etwas antun«, sagte Josh Freeman beruhigend und strich ihr mehrmals über das Haar.
Sie sah zu ihm auf. »Versprechen Sie mir das?« fragte sie. Sie kam sich albern vor dabei, aber sie mußte die Worte hören.
»Ich verspreche es«, sagte er.
Als sie schließlich vor dem Haus in der Winter Street hielten, waren Bonnies Tränen getrocknet. »Verzeihen Sie mir«, sagte sie leise. »Ich hätte Sie nicht damit belasten sollen.«
»Es gibt nichts zu verzeihen«, entgegnete er. »Fühlen Sie sich jetzt besser?«
Bonnie nickte. Rods Auto stand in der Einfahrt. Sam allerdings
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