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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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ist kein großer Schritt nötig, um all jene, die davonkommen, nicht mehr nur zu hassen, sondern sie auch zu verdächtigen, mit einer geheimen Kraft im Bunde zu stehen, und sie schließlich sogar zu beschuldigen, die Geißel verbreitet zu haben. Sie kennen die ewige Geschichte. Es würde mich nicht wundern, wenn man seine Familie erst verhöhnt, dann bedroht und schließlich voller Abscheu verfolgt hätte, bis sie den Ort des Dramas verlassen mußte, weil sie sonst womöglich von den Nachbarn in Stücke gerissen worden wäre.«
    »Verdammt«, sagte Adamsberg und trat mit dem Fuß in ein Grasbüschel am Fuß eines Baumes. »Sie haben recht.«
    »Es ist eine Möglichkeit.«
    »Es ist die einzige. Die Saga seiner Familie erzählt von dem Wunder ihres Überlebens, von ihrer Ausgrenzung und Verfolgung. Die Saga besteht dann, der Pest entgangen zu sein und, mehr noch, Herr über sie gewesen zu sein. Womöglich waren die Angehörigen dieser Familie stolz auf das, was ihnen vorgeworfen wurde.«
    »So ist das im allgemeinen. Werfen Sie jemandem vor, er sei blöd, und er wird Ihnen antworten, daß er stolz darauf ist. Ein gewöhnlicher Verteidigungsreflex, ganz unabhängig vom Gegenstand des Vorwurfs.«
    »Der Mythos liegt in ihrem Anderssein, in ihrer unaufhörlich beschworenen Macht über die Geißel Gottes.«
    »Adamsberg, Sie sollten im Falle Ihres Pestbereiters noch folgendes einkalkulieren: eine zerrissene Familie, der Verlust des Vaters oder der Mutter, ein Gefühl des Verlassenseins, kurz: immense Ohnmachtserfahrungen. Das ist die wahrscheinlichste Erklärung dafür, daß der Junge sich an den Ruhm der Familie geklammert hat, seine einzige Quelle der Macht. Diese Quelle wurde zweifellos immer wieder genährt, wahrscheinlich durch einen Großvater. Die Tradierung dramatischer Berichte überspringt meist eine Generation.«
    »Das wird mir nicht gerade helfen, ihn im Standesamtsregister zu finden«, bemerkte Adamsberg, der noch immer auf dasselbe Grasbüschel eintrat. »Hunderttausende sind der Pest entkommen.«
    »Tut mir leid.«
    »Schade, Ferez. Sie haben mir sehr geholfen.«
     

26
     
    Adamsberg lief den Boulevard Saint-Michel hinauf, über dem erneut die Sonne zu strahlen begann. Seine Jacke hatte er sich über den Arm gehängt, damit sie trocknen konnte. Er versuchte gar nicht erst, Argumente gegen Ferez' Ansicht zu sammeln, er wußte, daß der Arzt recht hatte. Damit war der Pestbereiter nun, kaum hatte er ihn in Reichweite geglaubt, wieder unerreichbar geworden. Somit blieb nur die Place Edgar-Quinet, die er gerade ansteuerte. Der Enkel der Lumpensammler von 1920 befand sich auf diesem Platz, dorthin kehrte er immer wieder zurück. Dort hielt er sich zumindest zeitweise auf, ungeachtet der Gefahr. Was hatte er schließlich zu befürchten? Er fühlte sich als der Meister, das hatte er in einem entscheidenden Augenblick seines Lebens bewiesen. Da würden ihn, der die Geißel Gottes befehligte und sie mit einer kurzen Handbewegung blockieren konnte, doch achtundzwanzig Bullen nicht schrecken. Achtundzwanzig Bullen waren da nichts anderes als achtundzwanzig Häufchen Vogeldreck.
    Und alle nährten sie den Stolz des Pestbereiters: Die Pariser gehorchten ihm und malten gewissenhaft den Talisman an ihre Türen. Und die achtundzwanzig Bullen ließen zu, daß es immer mehr Leichen gab. Bereits vier Todesfälle, und Adamsberg hatte nicht den Anflug einer Idee, wie der nächste verhindert werden konnte. Außer, sich auf diese Kreuzung zu stellen und zu beobachten, was, das wußte er selbst nicht, und um seine Jacke und die Hosenbeine trocknen zu lassen.
    Er kam genau in dem Moment auf dem Platz an, als der Donnerschlag des Normannen ertönte. Inzwischen hatte er das System verstanden und beeilte sich, von dem warmen Essen zu profitieren. Er schloß sich der Tischgesellschaft an, die Decambrais, Lizbeth, Le Guern, die schwermütige Eva und einige unbekannte Gesichter umfaßte. Wie auf einen - offensichtlich von Decambrais erteilten - Befehl hin versuchte man von allem zu reden außer von dem Pestbereiter. An den Nachbartischen hingegen kreisten die Gespräche gut hörbar genau um dieses Kapitel, und manche Diskussionsteilnehmer vertraten mit großer Heftigkeit die Sicht des kritischen Zeitungsartikels: Die Bullen logen. Die Fotos der Strangulationsmale waren Fälschungen, für was hielt man die Leute eigentlich? Für Idioten? Schön und gut, antwortete eine weitere Stimme, aber wenn deine Toten an der Pest gestorben sind,

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