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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Wir sind nicht hier, um die Geschichte neu aufzurollen. Ich erkläre Ihnen nur, daß die Angst vor der Geißel der Grand Saint-Antoine sich mit rasender Geschwindigkeit hier wieder ausbreitet.«
    »Erzählen Sie mir nicht, daß alle Einwohner von Marseille wissen, wer dieser Roze und dieser Belsain waren.«
    »Belsunce, Kollege.«
    »Belsunce.«
    »Nein«, gab Masséna zu. »Sicher nicht alle. Aber die Geschichte der Pest, die verwüstete Stadt, die Pestmauer, die kennen sie. Die Pest sitzt tief in den Köpfen.«
    »Hier offenbar auch, Masséna. Die Zahl der markierten Gebäude wird heute die Zehntausendermarke überschreiten. Man kann nur noch beten, daß es bald keine Farbe mehr gibt.«
    »Nun, hier habe ich an einem einzigen Vormittag im alten Hafenviertel ungefähr zweihundert gezählt. Rechnen Sie das auf die Größe der Stadt um. Verdammte Scheiße, Kollege, sind die denn alle verrückt geworden?«
    »Das tun sie, um sich zu schützen, Masséna. Würden Sie all die Leute zählen, die ein Kupferarmband, eine Hasenpfote, einen heiligen Christophorus oder Lourdes-Wasser besitzen oder die auf Holz klopfen - von Kreuzen will ich gar nicht reden -, kämen Sie leicht auf vierzig Millionen.«
    Masséna seufzte.
    »Solange sie es selbst tun, ist das nicht schlimm«, fuhr Adamsberg fort. »Gibt es irgend etwas, das auf eine authentische Handschrift hindeutet? Eine Vier, die der Pestbereiter selbst gemalt haben könnte?«
    »Schwer zu sagen, Kollege. Die Leute malen ab. Es gibt viele, die den Ansatz nicht verbreitern, wissen Sie, oder die einen Längsstrich statt zwei an den Querbalken zeichnen. Aber zu fünfzig Prozent sind sie gewissenhaft. Das Ding hat verteufelte Ähnlichkeit mit dem Original. Wie soll ich mich da zurechtfinden?«
    »Wurden Umschläge gemeldet?«
    »Nein.«
    »Haben Sie Häuser registriert, in denen alle Türen außer einer gezeichnet wurden?«
    »Es gibt welche, Kollege. Aber es gibt auch haufenweise Leute, die einen kühlen Kopf bewahren und sich weigern, diesen Blödsinn auf ihre Wohnungstür zu malen. Es gibt auch Schamhafte, die eine winzige Vier unten an ihre Tür kritzeln. So tun sie es, ohne es wirklich zu tun, ganz diskret, oder sie tun es nicht, während sie es doch tun, ganz wie Sie wollen. Ich kann nicht alle Türen mit der Lupe untersuchen. Machen Sie das etwa?«
    »Es ist eine Flutwelle, Masséna, die Hauptbeschäftigung dieses Wochenendes. Wir kontrollieren nicht mehr.«
    »Gar nichts mehr?«
    »Fast nichts mehr. Von den hundertfünf Millionen Quadratmetern der Stadt kontrolliere ich hundert. Das ist der Platz, auf dem der Pestbereiter, der jetzt, wo ich mit Ihnen rede, vielleicht gerade am Alten Hafen herumstreift, hoffentlich aufkreuzen wird.«
    »Haben Sie seine Beschreibung? Eine vage Vorstellung?«
    »Nichts. Niemand hat ihn gesehen. Ich weiß nicht einmal, ob es ein Mann ist.«
    »Nach was halten Sie dann Ausschau auf Ihrem kleinen Platz, Kollege? Nach einem Teleplasma?«
    »Nach einem Eindruck. Ich rufe Sie heute abend wieder an, Masséna. Halten Sie durch.«
     
    Schon eine ganze Weile wurde wütend an der Klinke der Toilettentür gerüttelt, und als Adamsberg friedlich die Kabine verließ, wartete jemand ungeduldig darauf, seine vier Bier endlich wegpissen zu können.
    Adamsberg bat Bertin um die Erlaubnis, seine Jacke über einem der Stühle trocknen zu lassen, während er draußen auf dem Platz umherschlenderte. Seitdem der Kommissar den sinkenden Mut des Normannen in letzter Minute wiederaufgerichtet und ihn damit vielleicht davor bewahrt hatte, zum allgemeinem Gespött zu werden und seine göttliche Autorität bei seiner Kundschaft für immer zu verlieren, sah Bertin sich als sein Schuldner auf Lebenszeit. Er hätte ihm lieber zehn- als nur einmal erlaubt, die Jacke, der er die besorgte Aufmerksamkeit einer Mutter entgegenbringen würde, im Viking zu lassen, und drängte Adamsberg, eine grüne Öljacke anzuziehen, bevor er sich draußen dem Wind und dem Regen aussetzte, die Joss beim Mittagsausrufen angekündigt hatte. Adamsberg befolgte den Rat, um den stolzen Nachfahren Thors nicht zu verletzen.
    Er vertrödelte den ganzen Nachmittag auf der Kreuzung, zwischendurch trank er den einen oder anderen Kaffee im Viking und telefonierte. Bis zum Abend würde die Zahl der markierten Gebäude in Paris die fünfzehntausend und in Marseille, das in der Tat einen rasanten Start hinlegte, die viertausend überschreiten. Adamsberg fühlte, daß er immer mehr abstumpfte, und bot all

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