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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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seine Befähigung zur Gleichgültigkeit auf, um gegen diese steigende Flut anzukämpfen. Hätte man ihm von zwei Millionen Vieren berichtet, es hätte ihn auch nicht stärker erschüttert. Alles in ihm kam zum Stillstand, ergab sich dem gegenwärtigen Moment. Alles außer seinen Augen, den einzigen Teilen seines Körpers, die noch lebendig geblieben waren.
    Für das Abendausrufen lehnte er sich schlaff und mit hängenden Armen gegen die Platane. In der deutlich zu weiten Öljacke des Normannen sah er verloren aus. Sonntags verschob Le Guern die Zeiten nach hinten, und so war es bereits fast sieben Uhr, als er seine Kiste auf den Bürgersteig stellte. Adamsberg erwartete sich von diesem Ausrufen nichts, da sonntags der Briefträger nicht kam. Aber er begann in den Grüppchen, die sich um das Podest bildeten, Gesichter wiederzuerkennen. Mit Hilfe der von Decambrais angelegten Liste überprüfte er seine neuen Bekanntschaften sofort. Um zwei Minuten vor sieben erschien Decambrais auf seiner Türschwelle, Lizbeth drängte sich kraft ihrer Ellbogen durch die kleine Menschenmenge, um sich an ihren Stammplatz zu begeben, und auch Damas erschien vor seinem Geschäft, im Pulli, und lehnte sich an das heute nicht hochgezogene Eisengitter.
    Entschlossen begann Joss mit dem Ausrufen. Seine klangvolle Stimme drang bis zum anderen Ende des Platzes. Adamsberg hörte mit Vergnügen zu, wie die harmlosen Anzeigen unter der kraftlosen Sonne dahinzogen. Dieser gänzlich untätige Nachmittag, an dem er Körper und Gedanken vollständig hatte erschlaffen lassen, hatte ihm geholfen, sich nach seiner kompakten Diskussion mit Ferez am Vormittag zu entspannen. Er hatte den Energiezustand eines von der Dünung hin und her geworfenen Schwammes erreicht, exakt den Zustand, den er bisweilen suchte.
    Am Ende des Ausrufens, Joss war gerade bei seinem Schiffbruch angekommen, schreckte Adamsberg plötzlich auf, als habe ein spitzer Stein den Schwamm mit voller Wucht getroffen. Der Schock schmerzte beinahe und versetzte ihn in höchste Alarmbereitschaft, obwohl Adamsberg nicht sagen konnte, was diese jähe Erschütterung ausgelöst hatte. Ein Bild mußte ihn angestoßen haben, gerade als er, gegen den Stamm der Platane gelehnt, fast eingeschlafen war. Ein winziger Fetzen eines Bildes, irgendwo auf dem Platz, der ihn eine Zehntelsekunde gestreift hatte.
    Adamsberg richtete sich auf und suchte in allen Richtungen nach dem unbekannten Bild, um an den Moment des Schocks anzuknüpfen. Dann lehnte er sich noch einmal gegen den Baum und rekonstruierte genau die Stellung, in der er sich im Augenblick des Einschlags befunden hatte. Sein Blickfeld reichte von Decambrais' Haus bis zum Geschäft von Damas und umfaßte die Rue du Montparnasse und etwa ein Viertel des Publikums, das er von vorne sah. Adamsberg preßte die Lippen zusammen. Das war ein ziemlich großer Teil des Platzes, und es waren ganz schön viele Leute, und schon zerstreute sich die Menge in alle Winde. Fünf Minuten später trug Joss seine Kiste zurück, und der Platz leerte sich. Alles entglitt ihm. Adamsberg schloß die Augen, den Kopf zum Weiß des Himmels erhoben, in der Hoffnung, das Bild käme auf dem Luftweg von allein zurück. Aber das Bild war in die Tiefe seines Bewußtseins gefallen wie ein namenloser Stein in einen Brunnen. Vielleicht war es verärgert darüber, daß er ihm in dem kurzen Augenblick, in dem es wie eine Sternschnuppe vorübergezogen war, nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte; vielleicht würde es Monate dauern, bevor es sich entschloß, wieder aufzusteigen.
    Enttäuscht verließ Adamsberg den Platz, überzeugt, daß er gerade seine einzige Chance hatte entgleiten lassen.
    Erst als er zu Hause war und sich auszog, merkte er, daß er die grüne Öljacke des Normannen anbehalten und seine alte schwarze Jacke unter dem geschnitzten Bug des Drachenbootes hängengelassen hatte. Ein Zeichen, daß auch er dem göttlichen Schutz in der Person von Bertin vertraute. Oder - was wahrscheinlicher war - ein Zeichen dafür, daß er alles treiben ließ.
     

27
     
    Camille stieg die vier engen Treppen hinauf, die zu Adamsbergs Wohnung führten. Im Vorbeigehen bemerkte sie, daß der Bewohner der dritten Etage links seine Tür mit einer gigantischen schwarzen Vier bemalt hatte. Sie und Jean-Baptiste hatten verabredet, sich heute abend zu treffen, um die Nacht miteinander zu verbringen, nicht vor zehn wegen der unvorhersehbaren Tagesabläufe, die der Pestbereiter der Brigade

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