Fliehe weit und schnell
streiche also jegliche rationale Motivation und auch jeden Zufall aus dem Entscheidungsprozeß des Pestbereiters. Er ist kein Mensch, der sich gesagt hat, na, nehmen wir uns die Geißel Gottes, das wird wie ein Paukenschlag sein. Er ist kein Blender oder Spaßvogel. Ausgeschlossen. Der Pestbereiter verfügt nicht über diese Distanz. Er glaubt zutiefst an seine Pest. Er zeichnet seine Vieren mit aufrichtiger Liebe, er hat sich vollkommen in seine Sache verbissen. Er benutzt die Pest instinktiv, ohne jeden angemessenen kulturellen Kontext. Ihm ist es egal, ob er verstanden wird oder nicht. Er versteht sich. Er greift auf sie zurück, weil es sein muß. Zu diesem Schluß komme ich.«
»Gut«, bemerkte Ferez geduldig.
»Wenn das für den Pestbereiter gilt, dann weil die Pest in ihm ist, sie ist für ihn etwas Fundamentales. Also handelt es sich um eine Art...«
»Familienangelegenheit«, vervollständigte Ferez.
»Exakt. Stimmen Sie mit mir überein?«
»Es besteht kein Zweifel, Adamsberg. Weil es keine andere Lösung gibt.«
»Gut«, sagte Adamsberg, beruhigt und mit dem Gefühl, daß er nun, was das Vokabular anging, das Schwierigste hinter sich gebracht hatte. »Anfangs habe ich gedacht, daß der Kerl sich die Krankheit vielleicht in einem fernen Land geholt hat, als junger Mensch, ein Unglück, ein Trauma, was weiß ich«, fuhr er fort. »Das hat mir aber nicht genügt.«
»Also?« fragte Ferez ermutigend.
»Also habe ich mir den Kopf zerbrochen und überlegt, unter welchen Bedingungen ein Mann als Kind unter den Folgen eines Dramas hätte leiden können, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu Ende gegangen ist. Ich bin auf die einzige logische Lösung gekommen, daß der Pestbereiter zweihundertsechzig Jahre alt sein müßte. Das hat mich nicht befriedigt.«
»Nicht schlecht. Ein interessanter Patient.«
»Dann habe ich erfahren, daß Paris 1920 noch einmal von der Pest getroffen wurde. In unserem, gerade zu Ende gegangenen Jahrhundert, und zwar einige Jahre nach dessen Beginn. Wußten Sie das?«
»Nein«, gab Ferez zu. »Ganz ehrlich, nein.«
»Sechsundneunzig Fälle, vierunddreißig Tote, mehrheitlich in der ärmlichen Banlieue. Und ich glaube, daß die Familie unseres Pestbereiters diese Wirren erlebt hat, Ferez, daß sie zum Teil davon betroffen war, vielleicht die Urgroßeltern. Und daß das Drama sich für alle Zeiten in die Familiengeschichte eingebrannt hat.«
»So etwas nennt man einen Familienmythos«, unterbrach der Arzt.
»Sehr gut. Es ist zu einem festen Bestandteil dieser Familie geworden, und auf diese Weise ist die Pest in den Kopf des Kindes gedrungen, durch die immer wieder erzählte Geschichte von der Auslöschung seiner Vorfahren. Meiner Ansicht nach ist das Kind ein Junge. Für ihn ist sie also ein natürlicher Bestandteil seines Lebens, seines...«
»Seines psychischen Umfelds.«
»Genau. Für ihn ist sie ein lebendiges Element und nicht eine überkommene historische Gestalt wie für uns. Ich werde den Namen seiner Familie also unter den Namen der vierunddreißig Pestopfer von 1920 finden.«
Adamsberg blieb stehen, verschränkte die Arme und sah den Arzt an.
»Sie sind ziemlich gut, Adamsberg«, sagte Ferez lächelnd. »Und Sie sind auf dem richtigen Weg. Fügen Sie diesem Familienmythos noch heftige Erschütterungen hinzu, die seine Fortschreibung ermöglicht haben. Mythen nisten sich in Brüchen ein.«
»Verstanden.«
»Aber ich befürchte, ich muß Sie enttäuschen. Ich würde Ihren Pestbereiter nicht in einer Familie suchen, die von der Pest dezimiert wurde. Sondern in einer Familie, die verschont geblieben ist. Das macht Tausende von möglichen Kandidaten und nicht mehr nur vierunddreißig.«
»Warum verschont geblieben?«
»Weil Ihr Pestbereiter sich der Pest als Machtinstrument bedient.«
»Ja, und?«
»Das wäre nicht der Fall, wenn die Pest seine Familie besiegt hätte. Dann würde er sie hassen.«
»Ich habe mir gedacht, daß ich mich irgendwo geirrt haben muß«, seufzte Adamsberg und begann, die Arme im Rücken verschränkt, wieder auf und ab zu gehen.
»Es war kein Irrtum, Adamsberg, nur ein einfaches Gelenkstück, das falsch angebracht war. Denn der Pestbereiter nutzt die Krankheit als Machtinstrument, weil sie seiner Familie zu ihrer Zeit Macht verliehen hat. Wahrscheinlich wurde der Haushalt inmitten eines Viertels, in dem alle anderen starben, wie durch ein Wunder verschont. Und womöglich hat die Familie einen hohen Preis für dieses Wunder bezahlt. Es
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