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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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wie kommt es dann, daß sie noch Zeit hatten, sich auszuziehen und ihre Sachen fein säuberlich aufzutürmen, bevor sie ins Gras gebissen haben? Oder daß sie die Zeit hatten, sich unter einen Laster zu legen? Wie soll das gehen, kannst du mir das sagen? Erinnert das an Pest oder an Mord? Sehr richtig, dachte Adamsberg, der sich umgewandt hatte, um sich das intelligente, bedächtige Gesicht der Sprecherin anzusehen, einer sehr dicken Frau, die in eine geblümte Bluse gezwängt war. Ich sage ja nicht, daß das einfach ist, gab sich ihr Gegenüber halb geschlagen. Darum geht es nicht, unterbrach ein hagerer Mann mit heller Stimme. Es ist beides zugleich. Es sind Leute, die an der Pest sterben, aber da der Unbekannte will, daß die Sache ans Licht kommt, holt er die Opfer aus ihrer Wohnung und zieht sie aus, damit man deutlich sieht, wie es um sie steht, und damit die Bevölkerung Bescheid weiß. Er ist kein Betrüger. Er versucht zu helfen. Und warum wird er dann nicht deutlicher? fuhr die Frau fort. Kerle, die sich verstecken, haben mir noch nie Vertrauen eingeflößt. Er versteckt sich, weil er sich nicht zeigen kann, erklärte die helle Stimme, die ihre Theorie erst mühsam beim Reden entwickelte. Es ist ein Kerl aus einem Labor, und dieser Kerl weiß, daß sie die Pest freigesetzt haben, als ein Glasröhrchen oder so was geplatzt ist. Er darf nichts sagen, weil das Labor Befehl hat, die Klappe zu halten, wegen der Bevölkerung. Die Regierung mag die Bevölkerung nicht, wenn die sich nicht ruhig verhält. Also Mund halten. Der Kerl versucht, den Leuten das begreiflich zu machen, ohne selbst erkannt zu werden. Warum? fragte die Frau nach. Hat er Angst, seine Stelle zu verlieren? Wenn dein Beschützer deswegen nicht reden will, Andre, dann laß dir sagen, er ist ein jämmerlicher Wicht.
     
    Beim Kaffee entfernte sich Adamsberg, weil er einen Anruf von Oberleutnant Mordent bekommen hatte. Die Zahl der betroffenen Gebäude wurde inzwischen auf fast zehntausend geschätzt. Einerseits sei kein neues Opfer zu verzeichnen, nein, was das anging, komme man ein bißchen zu Atem. Andererseits aber ertrinke man regelrecht in Anrufen. Ob man jetzt damit aufhören könne, die Anrufe sämtlicher Paniker zu beantworten? Außerdem seien sie heute nur zu sechst in der Brigade. Natürlich, erwiderte Adamsberg. Gut, sagte Mordent, um so besser. Es tröste ihn, daß es jetzt wenigstens auch in Marseille heftig losgehe, da hätten sie immerhin Gesellschaft. Masséna hatte um seinen Rückruf gebeten.
    Adamsberg schloß sich in der Toilette ein, um Masséna anzurufen. Er setzte sich auf den heruntergeklappten Klodeckel.
    »Es geht los, Kollege«, sagte Masséna. »Seitdem die Botschaft Ihres Irren im Radio gekommen ist und die Journalisten sie kommentiert haben, ist hier die Hölle los.«
    »Es ist nicht mein Irrer, Masséna«, erklärte Adamsberg recht deutlich. »Es ist jetzt auch Ihrer. Teilen wir.«
    Masséna schwieg einen kurzen Augenblick lang, genau die Zeit, die er brauchte, um den Kollegen einzuschätzen.
    »Teilen wir«, sagte er schließlich. »Unser Verrückter hat den Finger auf einen neuralgischen Punkt gelegt; die Pest ist hier eine alte Wunde, aber es braucht nicht viel, um sie wieder aufzureißen. Jedes Jahr im Juni hält der Erzbischof eine Votivmesse, um die Epidemie zu bannen. Wir haben noch Denkmäler und Straßen zu Ehren des Chevalier Roze oder des Bischofs Belsunce. Die Namen sind noch lebendig, weil die Marseiller kein Arschloch anstelle des Gedächtnisses haben.«
    »Was waren das für Leute?« fragte Adamsberg ruhig.
    Masséna war ein Choleriker, den, so vermutete Adamsberg, eine instinktive Aversion gegen die Hauptstädter vollends auf die Palme brachte - was Adamsberg völlig kaltließ, weil er kein Pariser war, ihn aber auch dann kaltgelassen hätte, wenn er Pariser gewesen wäre. Ob man von hier oder von dort kam, hatte für ihn nicht die geringste Bedeutung. Aber Masséna gab sich nur nach außen so streitbar, und Adamsberg würde keine Viertelstunde brauchen, um diese Fassade zum Einsturz zu bringen.
    »Diese Leute, Kollege, sind Männer, die Tag und Nacht größte Anstrengungen unternommen haben, um den Menschen während der großen Seuche von 1720 zu helfen, als städtische Beamte, Notabeln, Ärzte und Pfarrer die Beine in die Hand genommen haben und in Scharen abgehauen sind. Kurz: Es waren Helden.«
    »Es ist normal, Angst vor dem Tod zu haben, Masséna. Sie waren nicht dabei.«
    »Hören Sie mal zu.

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