Fliehe weit und schnell
diktierte.
Das Kätzchen unter ihrem Arm nervte sie. Seit Stunden war es ihr gefolgt. Sie hatte es gestreichelt, dann stehenlassen, dann abgehängt, aber das Kätzchen hatte sich hartnäckig an ihre Fersen geheftet, war ihr hinterhergerannt und hatte sich bemüht, sie in unkoordinierten Sprüngen wieder einzuholen. Camille hatte die Grünanlage durchquert, um die Verfolgungsjagd zu beenden. Sie hatte es vor der Wohnungstür zurückgelassen, während sie zu Abend aß, und es auf dem Treppenabsatz wiedergefunden, als sie gegangen war. Mutig hatte das Kätzchen, ganz auf sein Ziel konzentriert, erneut die Verfolgung aufgenommen. Als sie vor Adamsbergs Haus angekommen war und immer noch nicht wußte, was sie mit diesem Tier tun sollte, das sie erwählt hatte, hatte sie es um des lieben Friedens willen aufgehoben und unter den Arm geklemmt. Es war eine kleine weißgraue Kugel, nichts weiter, leicht wie ein Schaumstoffball, mit vollkommen runden blauen Augen.
Um fünf nach zehn stieß Camille die Tür auf, die Adamsberg fast immer nur anlehnte, und sah niemanden, weder im Wohnzimmer noch in der Küche. Neben dem Spülbecken tropfte Geschirr ab, und Camille schloß daraus, daß Jean-Baptiste eingeschlafen war, während er auf sie wartete. Sie könnte sich zu ihm legen, ohne ihn aus seinem ersten Schlaf zu reißen, den sie in Phasen intensiver Ermittlungen stets schonte, und den Kopf für die Nacht auf seinen Bauch legen. Sie stellte ihren Rucksack ab, zog die Jacke aus, setzte das Kätzchen auf die Bank und ging mit vorsichtigen Schritten ins Schlafzimmer.
Jean-Baptiste befand sich zwar in dem dunklen Raum, aber er schlief nicht. Als sie seinen nackten Körper, der sich braun von den weißen Laken abhob, von hinten sah, brauchte Camille einen Augenblick, um zu begreifen, daß er gerade mit einer jungen Frau schlief.
Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre Stirn wie ein Granatsplitter, der zwischen ihren Augen einschlug, und unter dem Eindruck dieses Blitzes stellte sie sich für den Bruchteil einer Sekunde vor, daß sie in ihrem Leben nie wieder sehen würde. Mit weichen Knien ließ sie sich auf den hölzernen Überseekoffer fallen, der allen möglichen Zwecken diente, heute abend als Ablage für die Kleider der jungen Frau. Vor ihr bewegten sich die beiden Körper, die sich Camilles stiller Anwesenheit nicht bewußt waren. Camille beobachtete sie benommen. Sie sah Jean-Baptistes Bewegungen und erkannte sie eine nach der anderen wieder. Dieser Schmerz in der Stirn, der wie ein rotglühender Bohrer zwischen ihren Augenbrauen festsaß, zwang sie, die Augen zusammenzukneifen. Ein brutales Bild, ein banales Bild, Verletzung und Banalität. Camille senkte den Blick.
Weine nicht, Camille.
Sie fixierte einen Punkt auf dem Boden und zwang sich, den Blick von den auf dem Bett ausgestreckten Körpern abzuwenden.
Verschwinde, Camille. Verschwinde rasch, weit weg und für lange Zeit.
Cito, longe, tarde.
Camille versuchte sich zu bewegen, aber sie spürte, daß ihre Beine sie nicht mehr trugen. Sie senkte den Blick noch tiefer und konzentrierte sich fest auf ihre Füße. Auf ihre schwarzen Lederstiefel, deren karreeförmige Kappe, seitliche Schnallen, staubige Falten und schiefgelaufene Absätze sie intensiv musterte.
Deine Stiefel, Camille, sieh auf deine Stiefel.
Ich sehe drauf.
Was für ein Glück, daß sie ihre Schuhe nicht ausgezogen hatte. Barfuß und entwaffnet, wäre sie nicht mehr in der Lage gewesen, wohin auch immer zu gehen. Vielleicht wäre sie dageblieben, auf den Koffer festgenagelt, mit diesem Bohrer in der Stirn. Bestimmt ein Betonbohrer, kein Holzbohrer. Sieh auf deine Stiefel, da du sie hast. Sieh fest auf deine Stiefel. Und renn, Camille.
Aber es war zu früh. Ihre Beine ruhten wie schlaff hängende Fahnen auf dem Holz des Koffers. Heb nicht den Kopf, sieh nicht hin.
Natürlich wußte sie es. Es war immer so gewesen. Es hatte immer schon andere Frauen gegeben, viele Frauen, für unterschiedlich lange Phasen, das hing von der Belastbarkeit der Frau ab, da Adamsberg jede Situation bis zur Erschöpfung zerfallen ließ. Natürlich hatte es immer Frauen gegeben, die wie Sirenen im Fluß schwammen, die sich an den Uferböschungen schlängelten. »Sie rühren mich«, war Jean-Baptistes lakonischer Kommentar gewesen. Ja, Camille kannte das alles, die Augenblicke, da er plötzlich verschwand, die Zeiten, von denen er nicht sprach, all das, was irgendwo in der Ferne brodelte. Einmal hatte sie kehrtgemacht und war
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