Fliehganzleis
intensiven Geruch. Meine Hand rutscht aus Jannes und ich sinke auf die feuchte Erde.
Ich krallte meine Fingernägel in meine Arme, um aus dem vernichtenden Sog von Vorwürfen und Gewissensbissen herauszukommen. Stand auf und tappte in die Küche, wo ich mir ein Glas Leitungswasser nahm und mich auf den Tisch setzte, die Füße unter ein Stuhlkissen schob. Solche Stunden multiplizierten alle Ängste, alle schlechten Gefühle. Jedes innere Drama, das schon längst nicht mehr auf dem Spielplan stand, legte einfach los. Ich war die Bühne. Ich, die ich endlich ein wenig zur Ruhe gekommen war. Ich, die ich nicht mehr auf Reisen ging. Weil ich nicht mehr konnte. Weil Flughäfen mich fertigmachten. Weil ich mich einsam fühlte und seltsam leblos, wenn der Flieger abhob. Weil ich es satt hatte, mich in immer neuen Orten und Umständen zu orientieren. Deshalb hatte ich meine Tätigkeit als Reisejournalistin aufgegeben. Es war kein Traumjob gewesen, nur kalte Notwendigkeit, denn mit irgendwas musste ich meine Brötchen verdienen.
Nun hockte ich in der Küche der Gräfin, die mit dem Tod kämpfte, fasste unter der Schlafanzughose an mein Bein und tastete über die Narben und Verwachsungen. Sie verzerrten die Rundungen meines Körpers. Sie schmerzten nicht mehr, aber sie verursachten zeitweise Spannungen, die bis in den Rücken ausstrahlten. Mit der künstlichen Hüfte hatte ich keine Probleme. Ich bewegte mich, als wäre es meine eigene; ich machte eisern zweimal wöchentlich meine Gymnastik, um die Muskulatur zu stärken. Zu mehr raffte ich mich nicht auf. Mehr Raum sollten die Wunden von damals nicht bekommen.
Vor drei Jahren war es mir so gegangen wie Larissa jetzt: Ich hatte nicht gewusst, ob ich leben würde oder sterben.
Wer war Larissa eigentlich? Nach Gerrit Binders Berichten schien sie mir fremder denn je. Ein Phantom, ein Geistwesen. Jemand aus einer anderen Welt.
Ich starrte aus dem Fenster. Sah einen Menschen, der ein paar Schritte zurückwich, sich umdrehte und im Schlund der Dunkelheit verschwand.
September 1973
Der letzte Arbeitstag. Sie muss so tun, als wäre es ein normaler Freitag. Vier Kinder kommen zur Welt. Neubeginn auf ihrer Station, während sie hofft, betet, in 24 Stunden im Westen zu sein. Was dann kommt, kann sie nicht sagen, will es auch nicht wissen, sie will es nur schaffen.
Was will ich dort, fragt sie sich unerwartet. Ist das alles nur eine fixe Idee? Was erwarte ich? Ist es klug, überhaupt etwas zu erwarten? Warum nehme ich das alles auf mich? Plötzlich zweifelt Larissa an ihren Absichten. Vergisst die kleinen biestigen Schikanen, die sie von hier forttreiben, den Zwang, öffentlich immer eine andere zu sein, die Bitterkeit, die Mutlosigkeit, die über der Stadt, dem ganzen kleinen Land liegt. Das ist eine typische Reaktion. Der Rückzug in letzter Minute. Aber der Zweifel verstreicht.
Dann fragt Ute sie nach Dienstschluss, ob sie nicht mit in die Kantine kommen würde. Bevor sie ins Wochenende fahren. Ute hat das erste Mal Stress mit ihrem Mann.
Während Ute ihr Herz ausschüttet, verklumpen in Larissas Kopf die Gedanken. Sie hat die ganze Woche lang kaum geschlafen. Hat ihrem Atem gelauscht, der sie durch die Nächte gehetzt hat. Hat gestern eine Schlaftablette genommen, nur um zur Ruhe zu kommen.
»Nimmst du auch den Wurstsalat?«, fragt Ute und steht auf.
»Ja. Gern.«
»Und ein Bier? Komm, wir haben Feierabend.«
Larissa nickt, hört zu, isst, trinkt, sagt etwas, verhält sich, als wäre es irgendein gewöhnlicher Freitag.
Dann fährt sie mit der Straßenbahn heim. Das letzte Mal.
Am Montag wird Ute sich wundern, dass Larissa nicht kommt. Allmählich werden sie herausfinden, was passiert ist, und Ute wird sagen, meine Güte, sie war meine Freundin, aber ich habe nie etwas gemerkt.
Das letzte Mal schließt sie die Wohnungstür auf.
Sie hat gestern Abend zwei Müllsäcke mit persönlichen Sachen vernichtet. Tagebücher, Briefe, der letzte Brief ihrer Mutter, bevor sie starb. Larissa hat ihr Leben in den Schredder geworfen. Larissa geht in ihr Winzlingsbad und wäscht sich das Gesicht, als es klingelt.
Das Herz rutscht ihr in die Hose. Etwas ist schiefgegangen. Sie werden nicht kommen, blasen alles ab. Das wäre der GAU . Noch schlimmer als die Warterei, diese vergangene Woche mit ihren nervenzerfetzenden Stunden.
Es ist die Nachbarin. Sie streckt Larissa eine Schüssel Brombeeren entgegen. »Frau Roth, die sind aus unserem Garten. Sie wissen schon. Sie mögen doch
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