Fliehganzleis
Nachttischlampen von Anno Tunichtgut, eine lederne Reisetasche, hart und rissig. Ein kaputter Squashschläger, ein dazu passender Ball. Ausgelatschte Wanderschuhe ohne Schnürsenkel. Milena trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Was passierte denn nach dem ersten Fluchtversuch?«, fragte ich harmlos.
»Sie kam in Haft. War wie vom Erdboden verschluckt.«
»Wie lange?«
»Ein paar Monate. Ich weiß es nicht genau.«
»Klar«, machte ich einen Rückzieher. »Sie waren noch ein Kind.« Ich glaubte Milena kein Wort. Sie mauerte, und ich hätte gerne gewusst, warum.
Ich ging zu dem Küchenbüffet hinüber. Darin fanden sich ein paar Gesellschaftsspiele, Monopoly, Malefiz, alles alte Ausgaben, zwei Sätze Schafkopfkarten und ein Satz Schulbücher.
»Im Kindergarten«, bohrte ich weiter, »haben die anderen Kinder nicht spitzgekriegt, was sich in Ihrer Familie zugetragen hatte? Wurden Sie nicht angesprochen, angefeindet? Kinder sind grausam.«
»Das ist alles lang her. Ich kann mich nicht richtig erinnern. Ich war beliebt, daher glaube ich kaum, dass die anderen Kinder mir große Schwierigkeiten gemacht hätten. Allenfalls die Erzieher und später die Lehrer.«
»Gerrit Binder sagte mir, er habe Larissa vor ihrem ersten Fluchtversuch nicht gewarnt.«
»Ach so?« Milena kniff die Augen zusammen. »Larissa hat es mir so erzählt.«
»Könnte jemand anderes sie gewarnt haben? Vielleicht Ihr Vater? Larissas Onkel?«
»Pfff«, machte Milena. »Was fragen Sie mich das?«
»Seit wann arbeitet Larissa nicht mehr als Ärztin?«, wechselte ich das Thema.
»Vor sieben Jahren tauchte eine Nachfolgerin auf. Eine junge Gynäkologin, die Larissa ganz gut kannte. Sie wollte die Praxis übernehmen. Larissa war dankbar darum.«
»Ich wundere mich nur, dass es kaum medizinische Fachliteratur im Schloss gibt.«
»Diese Bücher stehen in der Praxis. Larissa hat sie mitsamt der Einrichtung ihrer Nachfolgerin überlassen.«
Das passte zu Larissa, einen neuen Lebensabschnitt ohne Altlasten zu beginnen.
»Woher hatte Larissa eigentlich das Geld, um das Schloss herzurichten?«, fragte ich. »Das muss ein irrsinniger Aufwand gewesen sein.«
»Sie hat einen Kredit aufgenommen und ziemlich schnell getilgt. Zu ihrer Zeit hat man als niedergelassene Fachärztin noch richtig gut verdient.«
Ich zog die letzte Schublade des Büffets heraus. Darin lag eine Edeka-Plastiktüte, vollgestopft mit Skizzenbüchern.
»Was ist das?«, rief ich halblaut.
Milena trat neben mich. »Keine Ahnung.«
Ich besah mir die Kladden. Es waren fest gebundene Notizbücher mit Blankoseiten, wie ich sie selbst gerne benutzte. Nur das Papier war dünner, höchstens 70 Gramm schwer. Rasch blätterte ich hindurch. Mit weichem Bleistift hatte jemand Skizzen angefertigt. Landschaften, Karikaturen, Porträts. Einiges scharfzüngig, das meiste naiv.
»Hat Larissa das gezeichnet?«, fragte ich.
»Unmöglich. Meine Cousine kann nicht zeichnen. Dieses Talent hat sie nicht mal im Schlaf gestreift.«
Ich zuckte die Achseln und legte die Bücher weg. Dabei fiel ein Zettel zu Boden.
›Liebe Larissa, ich überlasse sie dir. Deine Rosa.‹
»Wer ist Rosa?« Ich hielt Milena den Zettel hin.
»Ich weiß es nicht.«
»Jemand aus der Familie?«
»Nein. Bei uns heißt niemand Rosa«, antwortete Milena kalt.
»Und Katja?«
»Nein!«
Wir verließen den Dachboden und stiegen die ausgetretenen Stufen hinunter. Milena ging in die Küche, wo Nero sich auf sein Montagsseminar vorbereitete, und setzte Kaffee auf. Ich trat in den Garten hinaus. Der satte Spätsommergeruch, der aus dem feuchten Gras aufstieg, tat gut. Ich streifte durch den Park.
Hier. An dieser Stelle hatte heute Nacht jemand gestanden. Bislang wusste Nero nichts davon, und ich hütete mich, Milena davon zu erzählen.
Aber ich war mir sicher. Ich drehte mich um und blickte zum Schloss. Genau hier hatte ich eine Gestalt gesehen. Mann oder Frau. Jemand, der meinen Blick bemerkt und sich ins Dunkel zurückgezogen hatte.
Vielleicht Milena?
Mich fröstelte. Die Sonne kam kaum durch den Dunst. Die Kühle dieses Sonntags nahm den Herbst vorweg. Ich ging ein paar Schritte und lehnte mich an den massiven Stamm einer Rotbuche. So blieb ich stehen, spürte den Baum atmen. Schloss die Augen und lauschte dem Lied seiner vielen Tausend Blätter.
September 2008
26
Nero war ein notorisch pünktlicher Mensch. Er verabscheute es, wenn andere Leute seine Zeit vergeudeten, indem sie ihn warten ließen, und
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