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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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Brombeeren?«
    Jetzt muss Larissa die Nachbarin bewirten, sich bedanken, über Kuchenrezepte reden. Sie bewältigt auch das.
    Dann nimmt sie die Schüssel mit den Beeren, ihren Wohnungsschlüssel und fährt zu Wolfgang.
    Zwei Stunden später ist sie wieder zurück in ihrer Wohnung. In einem Gehäuse, das noch für genau 72 Minuten ihr Zuhause ist. Sie zieht sich um und macht sich für ein Fest zurecht. Wie lange dauert die Fahrt in dem LKW bis zur Grenze? Wie schnell fertigen die Grenzer den LKW ab? Was, wenn sie aufs Klo muss? Was, wenn sie niesen muss? Was, wenn …
    Sie schlüpft in ein Sommerkleid und eine Häkeljacke. Verabschiedet sich von ihren anderen Kleidern und schließt die Schranktür. Ihr Bett hat sie heute früh nicht gemacht. Sie wird es nie mehr machen und sie wird nie mehr darin schlafen.
    Als sie Lidschatten aufträgt, klingelt es an der Tür.
    Larissa geht öffnen.
    »Alex?«
    Das ist zu viel. Das Blut sackt in ihre Füße. Sie taumelt, hält sich am Türrahmen fest.
    »Lass mich rein!«
    Alex schiebt sich an ihr vorbei.
    »Fahr nicht! Blas es ab! Geh nicht! Die Flucht ist verraten worden!«, sprudelt es aus ihm heraus. »Ich hab alles riskiert, bin aufs Rad gesprungen und los. Sie werden gleich da sein!«
    Sie sieht in sein erhitztes Gesicht.
    Er umschließt ihres mit seinen Händen. Küsst sie lange. Dann dreht er sich um und verlässt die Wohnung. Es werden 20 Jahre vergehen, ehe sie ihn wiedersieht.
    Kann sie ihm glauben? Warum sollte er lügen?
    Sie rekapituliert die Geschichte, die die Fluchthelfer sich für sie ausgedacht haben. Nimmt ihre Handtasche und verlässt die Wohnung, schwach vor Angst und Zweifel.
    Sie steht an der Straße und wartet auf den blauen Trabi.

25
    »Hier finden Sie nichts. Außer Staub und Vogelskeletten«, erklärte Milena naserümpfend.
    Wir standen auf dem Dachboden des Schlosses, einem einzigen, sich über das gesamte Gebäude erstreckenden Raum. Düsteres Licht sickerte durch die Dachsparren. An manchen Stellen fehlten Ziegel. Staub tanzte durch die Luft und verklebte die Lider. Ich rieb mir die Augen und nieste. Im Lauf vieler Jahre hatten sich immer wieder Vögel durch Ritzen und Spalten in den Speicher verirrt und den Weg nach draußen nicht mehr gefunden. Mindestens 20 kleine, vertrocknete Vogelkadaver machte ich aus, einige von ihnen kaum mehr noch als ein Häufchen Federn und hauchzarte Knochen.
    Ich hatte Milena nach persönlichen Aufzeichnungen der Gräfin gefragt, die mir für die Autobiografie nützlich sein könnten. Briefe, Tagebücher.
    Für einen so großen Speicher von mindestens 500 Quadratmetern stand hier außerordentlich wenig Krempel herum. Ein paar zerfledderte Umzugskisten, Bilderrahmen, ein alter Staubsauger, ein zerbrochener Globus. Ganz hinten lehnte ein Küchenbüffet, die Türen besaßen Scheiben aus schön geschliffenem Buntglas
    »Larissa wirft gerne weg«, sagte Milena. »Sie hasst es, sich mit Dingen zu umgeben, von denen sie sich innerlich schon getrennt hat.«
    Das gefiel mir. Ich betrachtete argwöhnisch die Pappkartons. Stand da wie der Ochs vorm Berg und wusste nicht mehr, was ich hier wollte. Das galt für das gesamte Drumherum. Was tat ich hier? Warum kümmerte ich mich um eine Geschichte, die nichts mehr hergab? Weil Milena mich gebucht hatte, mein Werk über Larissas Leben sehen wollte? Es wurde Zeit, dass wir zu einer bündigen Vereinbarung kamen.
    »Urkunden, Stammbäume, all das offizielle Zeug, das eine adelige Familie besitzt, bewahrt Larissa unten auf«, erklärte Milena ungeduldig. Sie fühlte sich zwischen den toten Vögeln ganz offensichtlich unwohl, und mir ging es nicht anders. Das Schicksal dieser unglücklichen Blaumeisen und Rotkehlchen schmerzte mich. Schicksal, Kea, dachte ich, das ist ein zu großes Wort für einen Vogel.
    »Was ist eigentlich mit Larissas Sachen passiert, als sie aus der DDR geflüchtet war?«, fragte ich.
    »Ich nehme an, sie hat alles Persönliche vernichtet. Damals kam die Stasi, knackte die Wohnungstür, schnüffelte herum.«
    »Also hat sie schon vor dem ersten Versuch alles vernichtet?«
    »Ich weiß es nicht. Ich war damals fünf!« Milena stemmte die Hände in die Hüften. Angriffslustig funkelten ihre Augen. »Mag sein, dass sie meinem Vater etwas gesagt hat. Ihrem Onkel hat sie vertraut. Die beiden waren immer ganz dicke miteinander.«
    Rasch kramte ich in den Kisten herum. Es gab nichts von Interesse. Ausrangierte Bücher, meist uralte Lexika und ein paar Atlanten, zwei

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