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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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brüllte mir zu, ich solle abhauen, am besten in die Schweiz, die wäre neutral. Wir hatten die Vision, dass die Sowjets gleich weitermarschieren, quer durch die Tschechoslowakei in den Westen!«
    »Hast du ihn je wiedergesehen?«
    »Nein. Er starb in der Haft. Später habe ich erfahren, dass sie ihn totgeprügelt haben. Nur ein paar Tage nach der Verhaftung. Ich verließ Prag in letzter Minute. Ein Freund nahm mich im Auto zur Grenze mit.« Julianes Gesicht war grau geworden.
    »Du träumst immer noch den Traum von der gerechten Welt, oder?«, fragte ich mitfühlend.
    »Es täte zu weh, sich davon zu verabschieden.« Juliane wischte den verschütteten Kaffee mit einem ganzen Stapel Papierservietten auf und warf das nasse Bündel in den Müll. »Wenn das Politbüro der tschechoslowakischen KP damals nicht nach Moskau verschleppt und umgestimmt worden wäre, womöglich hätte Dub č eks Weg dann Erfolg gehabt und die Welt sähe heute anders aus.«
    »Ich persönlich fühle mich wohler in einer Gesellschaft, in der nicht jeder Mitbürger potenziell als armer Schlucker gesehen wird«, wandte ich ein. »Ich will nicht vom Onkel Staat an die Hand genommen werden, damit ich zurechtkomme. Ich schaffe das alleine. Ich kann keinen brauchen, der mir erklärt, was gut für mich ist. Das war mal! Wenn es sein muss, mache ich Fehler, aber das sind dann meine Fehler.«
    »Ich brauche ein Bier.« Juliane ging zum Kühlschrank.
    »Klartext, Juliane: Warum erzählst du mir das?«
    Sie stellte zwei Flaschen auf den Tisch und setzte den Öffner an. ›Zisch‹.
    »Die Welt ist ein Tollhaus, und die Politik ist das Wolkenkuckucksheim darin.«
    Ich hatte längst verstanden, dass Juliane mir soeben einen Blick auf die Schrammen ihrer Seele gewährt hatte.
    »Hast du Lust, mir bei den Recherchen zu Larissas Lebensgeschichte zu helfen?«, fragte ich.
    »Sind wir ein Team?« Juliane sah mich an, den Kopf schiefgelegt wie ein Kakadu.
    »Sind wir.« Ich unterdrückte ein Seufzen, ahnungslos, wohin mich diese Absprache noch führen würde.

31
    Als ich endlich zu Hause vorfuhr, war die Septembernacht herabgesunken. Vor dem bewaldeten Hügel zeichneten sich die Umrisse meines Hauses ab. Ich stellte den Motor aus und blieb eine Weile sitzen. Musste mich erst wieder an die Einsamkeit hier draußen gewöhnen, die ich mit niemandem außer mit zwei Graugänsen teilte.
    Die beiden kamen fröhlich schnatternd auf mich zugelaufen, als ich ausstieg und die paar Meter zum Auslauf hinaufging. Sie waren zutraulicher als Kätzchen, ließen sich streicheln und zeigten mir ihre Zuneigung durch sanftes Zupfen.
    Noch war mir nicht ganz klar, warum Juliane mich gezwungen hatte, sie zur Komplizin zu machen. Lag es daran, dass sie sich nun, da Nero und ich zusammenkamen, voraussichtlich jedenfalls, als fünftes Rad am Wagen fühlte? Kam sie sich vernachlässigt vor, suchte sie einen Weg, mich an sie zu binden? Oder nahmen die Erinnerungen sie wirklich so mit, dass sie dermaßen ins Trudeln geriet?
    Ich atmete tief die kühle Spätsommerluft ein. Die lauen Nächte waren vorbei. Dunst hing zwischen den Bäumen. Man verspürte kein Verlangen mehr, nachts draußen zu sitzen. Ich sah den beleuchteten Kirchturm von Ohlkirchen hinter dem Hügel und lauschte in die Stille. Mein Haus lag am toten Ende der Straße. Sie führte an meinem Grundstück entlang und wurde wenige Kilometer weiter zu einem Flurbereinigungsweg, den allenfalls die Landwirte mit ihren Traktoren befuhren. Oder Einheimische, die zur Hochsaison den Touristenströmen zum Starnberger See und Ammersee ausweichen wollten.
    Ich brauchte die Stille hier draußen. Und ich fürchtete sie auch. Ich musste mich richtig überwinden, die Gänse in den Stall zu scheuchen, den Riegel vorzuschieben und auf meine Bude zuzugehen. Ein Haus, nicht mehr baufällig, aber immer noch kein Vorzeigeheim für ›Schöner wohnen‹. Das würde der Bungalow aus den 60ern auch nie werden.
    Er war zuletzt von einer Wohngemeinschaft okkupiert worden, die sich von morgens bis abends bekifft und die dringend nötigen Renovierungsarbeiten links liegen gelassen hatte. Danach war das Haus der Bank in den Rachen gefallen, und schließlich mir.
    Ich schloss gerade auf, als mein Handy klingelte. Den nächsten Reporter würde ich dermaßen mit verbalem Unflat überschütten, dass …
    »Gelbach«, meldete sich die Kommissarin. »Sind Sie schon zu Hause?«
    »Soeben angekommen.«
    »Das hat aber lange gedauert.«
    »Ich war noch bei einer

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