Flossen weg
Flosse auf der anderen Seite des Wals, und er blinzelte, um weit ins ferne Blau zu spähen. Taucherparanoia, so nannte er das immer. Dieses Gefühl, das man bekommt, wenn man merkt, dass sich von überallher etwas Großes, Fleischfressendes auf einen stürzen könnte, und man anfängt, sich im Blau nach schnellen Schatten umzusehen, so ähnlich, als erwartete man hinter einem dunklen Fenster eine unheilvolle Fratze.
Dann kam Bewegung in den Wal. Der Strudel vom Schwanz her warf Quinn zurück, aber er behielt die Orientierung und paddelte aufwärts, versuchte, das Tier im Auge zu behalten. Der Wal wendete mehr oder weniger auf der Stelle und schoss auf Nate zu. Dieser strampelte seitlich, versuchte, zur einen oder anderen Seite zu gelangen, dann aufwärts, so dass er sich eher über dem Tier als darunter befand, da es ihm beim Auftauchen definitiv einen Stoß versetzen würde.
Er sah sich um, über seine Schwimmflossen hinaus, während er strampelte, und bemerkte, dass der Wal seine Richtung änderte und wieder direkt auf ihn zuhielt. Noch einmal nahm Quinn Schwung in Richtung Oberfläche, dann warf er einen Blick hinunter und sah, dass sich das gewaltige Maul des Tieres unter ihm öffnete. Nein, das kann nicht sein, dachte er.
Die Panik, die in seiner Brust aufwallte, forderte Luft, aber es war, als klaffte unter ihm ein Loch im Meer … er würde es nicht bis an die Oberfläche schaffen. Das Tier kam halb aus den Fluten, als es ihn aus dem Wasser fischte, und Nate sah Himmel und weißes Wasser und Barten – wie Fransen über ihm am Oberkiefer, alles eingerahmt von einem mächtigen Trapez, dem offenen Maul des Wales. Dann spürte er, wie das Tier sank, und er sah, wie sich die Barten über ihm schlossen. Er rollte sich zusammen, hoffte, nicht von den Kiefern zermalmt zu werden, hoffte, als schrecklicher Fehlgriff in der Futterwahl gleich wieder ausgespuckt zu werden. Doch dann kam die riesige Zunge, warm und rau, und drückte ihn gegen die Barten, was sich anfühlte, als würde man von einem feuchten VW-Bus an ein schmiedeeisernes Tor gepresst. Er spürte, wie die Barten die Haut an seinem Rücken aufrissen, während die Zunge ihn umfing, das Meerwasser um ihn herum presste, als wollte das Tier Krill aussieben; dann drückte es immer fester zu, bis er keine Luft mehr bekam und ihm schwarz vor Augen wurde.
ZWEITER TEIL
Jonas’ Volk
Die Menschen brauchen Seeungeheuer
in ihren persönlichen Meeren.
Denn die Meere, bodenlos und schwarz in ihren Tiefen,
sind wie die dunklen Ebenen unseres Geistes,
in denen Traumsymbole reifen
und manchmal an die Oberfläche treiben
wie der Alte Mann aus dem Meer.
John Steinbeck
16
Schuhe aus im Wal!
»Schuhe aus im Wal!«, sagte eine Männerstimme aus dem Dunkel.
Quinn konnte nichts sehen. Ihm tat alles weh, als wäre er, na ja, durchgekaut worden. Auf allen vieren kroch er über etwas, das sich wie feuchter Latex anfühlte. Er streckte die Hand aus und tastete nach seinen Füßen. Er trug noch immer Schwimmflossen, und bei aller Verwirrung protestierte doch seine Logik.
»Ich trage keine Schuhe. Das sind Schwimmflossen.«
»Schuhe aus im Wal! Und versuch gar nicht erst, dich durch den After zu verdrücken.«
Zwei Dinge, von denen Nate, hätte man ihn eine Stunde vorher befragt, mit einiger Gewissheit beteuert hätte, dass er sie nie im Leben hören würde.
»Was?«, sagte Quinn und blinzelte ins Dunkel. Er merkte, dass er noch seine Tauchermaske trug, und schob sie aus dem Gesicht.
»Ich wette, er hat auch das Pastrami-Sandwich nicht dabei, um das ich ihn gebeten hatte, oder?«, sagte die Stimme.
Umrisse wurden im Dunkel sichtbar, und Nate sah direkt vor seiner Nase ein Gesicht. Er stöhnte auf und wich zurück, denn wenn es ihn auch mit großem Interesse zu begutachten schien, so war es doch kein menschliches Gesicht.
Clay Demodocus galt weltweit als einer der ruhigsten, ausgeglichensten, großzügigsten und rücksichtsvollsten Menschen im gesamten Bereich der Meeresbiologie. Sein Ruf eilte ihm voraus, und die Leute erwarteten, dass er auf einer langen Seereise in beengten Quartieren sowohl liebenswert als auch tüchtig wäre, was seine Arbeit anging, respektvoll der Arbeit anderen gegenüber und besonnen im Notfall. Da er sich bei seinen Aufträgen oft Forschern unterordnen musste, ließ sich Clay nicht auf Ego-Wettbewerbe und Testosteron-Schlachten mit der Mannschaft oder anderen Wissenschaftlern ein. Keine dieser Qualitäten war ihm anzumerken, als er sich
Weitere Kostenlose Bücher