Fluch der 100 Pforten
aus dem Blickfeld. Sooft sie wiederauftauchte, hoffte Henry, sie wäre ein Stück größer geworden. Stattdessen aber schien sie immer gleich weit entfernt zu bleiben, bis sie endlich, nachdem Henry, Monmouth und die Elfen um einen großen Felsvorsprung geklettert waren, ganz zweifellos ein Stück gewachsen war. Henry konnte die Umrisse von ein paar größeren Gebäuden ausmachen, den Kirchturm einer Kathedrale und einen Turm mit einem Kuppeldach. Und ebenso hörte er nun den Donner, während die Blitze unermüdlich um diese Türme herum tanzten.
»Seht mal!«, rief Frank begeistert. »Die Türme stehen noch. Hylfing kennt sich mit den dunklen Mächten aus. In diese Mauern sind Worte verbaut, die stärker sind als Stein.«
»Um wie viel stärker sind sie denn?«, fragte Henry.
Er erhielt keine Antwort. Alle standen nur triefend nass da und sahen zu, wie der Sturm toste.
»Ich denke, das wird sich noch zeigen«, meinte der dicke Frank.
Von nun an musste Henry nicht weiter zur Eile angetrieben werden. Er lief so schnell er konnte, und selbst Frank konnte kaum mit ihm Schritt halten.
Wenn seine leibliche Mutter noch lebte, dann saß sie dort mittendrin. Wenn er Brüder und Schwestern hatte, befanden sie sich innerhalb dieser Mauern. Wenn seine Tante und sein Onkel und seine Kusinen überlebt hatten, war dies der Ort, wo sie einander wieder treffen sollten.
Henry hatte keine Ahnung, ob er etwas ausrichten konnte. Er wusste nur, wohin er gehen musste. Wo sein Platz war.
Sie kamen nun näher und der Donner klang als wäre Krieg. Er peitschte herab und knallte wie Gewehrschüsse. Er grollte und bebte seinem eigenen Echo hinterher. Schließlich, nachdem sie eine Landzunge umrundet hatten, breitete sich am Fuß der Klippe der Hafen vor ihnen aus. Hylfing lag auf der gegenüberliegenden Seite.
Frank führte sie in ein kleines Wäldchen aus knorrigen, vom salzigen Wind verkrusteten Bäumen. Hier überdachten sie die Lage.
Sie konnten versuchen, durch den Hafen zur Kaimauer der Stadt hinüberzuschwimmen und dann hoffen, dass man sie an Land ließ − falls sie es überhaupt bis dorthin schafften. Sie konnten es am Stadttor probieren, was ebenso aussichtslos erschien, oder sie konnten versuchen, über die Stadtmauer hinüberzuklettern – was wohl die schlechteste Lösung war.
Aus der Wasseroberfläche des Hafens ragten Schiffsmasten empor. Kein einziges Schiff war mehr seetüchtig.
»Wir werden wohl schwimmen müssen«, meinte Monmouth.
»Elfen sinken wie Stein«, erinnerte ihn Roland.
»Henry«, sagte Monmouth. »Kannst du schwimmen?«
Henry zuckte die Schultern. Eine Gänsehaut überlief ihn und er blinzelte die Regentropfen aus seinen Augen. »Vor langer
Zeit habe ich mal einen Kurs gemacht, aber seitdem habe ich es nie mehr versucht. Und das hier ist ein ziemlich großes Wasser.«
»Schwimmen bringt auch nichts«, meinte Frank. »Wenn der Blitz ins Wasser einschlägt, sind wir tot.«
Tate nahm seinen Hut ab und wrang ihn aus – obwohl es noch weiterregnete. Dann setzte er sich auf den Boden und lehnte den Kopf an einen Baum. »Ich nehme an, das ist nicht ganz der richtige Moment, um nachzufragen, was wir hier überhaupt sollen?«
Der Donner schwieg.
Zuerst merkte es niemand, aber je länger die Stille anhielt desto seltsamer kam sie allen vor. Henry schob ein paar Äste auseinander und blickte hinüber zur Ebene vor der Stadtmauer. Er konnte nichts erkennen. Auf den zweiten Blick aber nahm er die Bewegung von etwas Dunklem wahr: Ein Mann in einer Kutte trat aus dem in einiger Entfernung gelegenen Wald am Fuß der Berge hervor und bewegte sich auf die Stadt zu. Nachdem Henry den ersten Mann gesehen hatte, bemerkte er auch den zweiten. Und dann noch einen. Und schließlich Dutzende, die sich über die ganze Ebene verteilt Hylfing näherten.
Als die Männer in den Kutten nah genug herangekommen waren, stiegen aus dem Inneren der Stadtmauer Pfeile auf, die gegen den Wind auf die Zauberer zuflogen. Der Donner erwachte wieder, und gleichzeitig läuteten die Glocken der Stadt gegen ihn an und vermischten sich mit den Rufen der Verteidiger.
Bei all dem Lärm hörte Henry plötzlich etwas hinter ihnen im Unterholz. Stimmen.
Henry wandte sich um und vier Männer in schwarzen Kutten kamen durch die Bäume auf sie zu. Sie hatten Schwerter dabei.
Tate stieß einen Fluch aus.
Roland und Frank sprangen auf, und gleichzeitig erklang der Bannspruch eines Zauberers. Der Zauber schlug ihnen wie eine Windböe
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