Fluch der 100 Pforten
Henrietta?«
Henrietta achtete nicht auf sie. »Also, wie lange noch, Penny?«, bohrte sie weiter.
Penelope schlug ihr Buch zu. »Gute Nacht«, sagte sie und knipste das Licht aus.
»Henrietta?«, fragte Anastasia. »Henrietta?«
Henrietta antwortete nicht.
Als ihre Schwestern beide gleichmäßig atmeten, schlüpfte Henrietta aus dem Bett und öffnete ihre Zimmertür einen Spalt breit. Dann zog sie eine Jeans an und stellte ihre Schuhe neben ihr Bett. Danach setzte sie sich in Position, um sehen zu können, wenn Henry und Richard über den Flur kamen. Sie konnte sie oben schon sprechen hören. Und herumpoltern. Dass sie versuchten leise zu sein, konnte man wirklich nicht behaupten.
Sie wartete. Sie versuchte Geduld zu haben und wartete noch ein bisschen länger. Sie stand auf, öffnete die Tür ein
Stückchen weiter und legte sich leise wieder auf ihr Bett. Auf dem Dachboden war es still geworden und Henrietta hatte Mühe, nicht wegzudämmern. Nachdem sie zu oft wieder hochgeschreckt war, setzte sie sich auf, schlang ihre Arme um ihre Knie, lehnte ihren Kopf gegen die Wand und schlief ein, ohne die Tür aus den Augen zu lassen.
Als Henrietta aufwachte, hatte sie Kopfschmerzen. Sie lag flach auf dem Rücken, mit dem Kopf am Fußende und einem Bein die Wand hinauf.
Anastasia schnarchte und Penelope war tief in ihre Decken gemummelt. Graues Dämmerlicht fiel durch das Zimmerfenster und auf den Flur hinaus.
Unter Schmerzen rappelte Henrietta sich hoch. So leise sie konnte, schob sie ihre Beine über die Bettkante und sprang auf. Sie rieb sich den Nacken, lief auf Zehenspitzen zur Tür und sah auf den Flur hinaus. Er war leer und Großvaters Tür war zu. Henrietta schlüpfte aus ihrem Zimmer, lehnte die Tür hinter sich an und lief zum Zimmer ihres Großvaters. Sie legte ihre Hand an die Tür und drückte, aber die Tür rührte sich nicht. Sie beugte sich vor und lehnte ihr Ohr daran, aber außer dem Knarren der Holzkonstruktion des Hauses unter ihren Füßen war nichts zu hören.
Enttäuscht von sich selbst, weil sie eingeschlafen war, und zunehmend sauer auf Henry – um von sich selbst abzulenken -, lief sie zur Dachbodentreppe. Sie hielt den Atem an und begann auf Zehenspitzen die Treppe am Rand hinaufzusteigen. Als sie über die oberste Stufe hinausblicken konnte, blieb sie stehen und musterte im Dämmerlicht Richards Schlafsack. Im nächsten Moment trat sie noch eine Stufe höher und sah
sich die Sache noch mal genauer an. Der Schlafsack war so hoch aufgebauscht, dass Richard durchaus darin hätte liegen können. Aber Henrietta hörte keinen Atem und sah auch nicht den Hauch einer Bewegung. Schnell legte sie die letzten Schritte zurück bis zu Henrys Tür. Der zerknüllte Schlafsack zu ihren Füßen war leer.
Zuerst gab Henrys Tür zwar ein wenig nach, sie ging aber nicht auf. Henrietta warf sich dagegen und wurde zurückgeschleudert.
Sie legte die Lippen an den Spalt zwischen den beiden Türflügeln und flüsterte: »Henry? Henry?« Als niemand antwortete, machte sie ein paar Schritte zurück und warf sich dann aus Leibeskräften mit der Schulter dagegen. Mit einem Knall sprangen die Türen auf und Henrietta trat ins Zimmer.
Die Lampe war eingeschaltet, aber sie war umgefallen. Henrys Bettzeug türmte sich an der Wand, doch das Bett war leer. Der Boden ebenso.
Henrietta setzte sich auf Henrys Bett und hob das Kissen hoch. Das Notizbuch war weg, aber die Briefe waren noch da. Und auf ihnen drauf lag der Schlüssel.
Na ja, wenigstens den hatten sie dagelassen. Sie wollte ihnen folgen, und zwar so schnell wie möglich. Es würde nicht mehr lange dauern, bis auch die anderen wach wurden und sich fragten, wo die beiden steckten.
Sie grinste, als sie die Treppe zurück nach unten schlich. Sie würde ganz lässig tun. »Hey, Jungs, wollt ihr nicht allmählich zurückkommen? Gleich gibt’s Frühstück.«
Auf der ersten Etage lief sie zu ihrem eigenen Zimmer, drückte vorsichtig die Klinke herab und schlüpfte hinein. Ihre
Schuhe standen noch da, wo sie sie bereitgestellt hatte. Ohne sich groß mit ihren Strümpfen abzugeben, zog sie sie mit Hilfe ihrer Finger an und schlich dann wieder hinaus, am Schlafzimmer ihrer Eltern und am Bad vorbei, und steckte dann den alten Schlüssel von außen in Großvaters Tür.
Als sie ins Zimmer trat, musste sie sich erst einmal umsehen, hinter der Tür nachgucken und auf der anderen Seite des Betts. In diesem Raum fühlte man sich immer wie in einer anderen Welt – aber
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