Fluch der 100 Pforten
mit den Schatten, die das Licht kurz vor der Dämmerung warf, überlief Henrietta eine Gänsehaut. Dazu roch es dieses Mal schrecklich feucht, klamm und modrig.
Die Jungen hatten die Pforte offen gelassen, was absolut nachvollziehbar war. Es wäre schön dumm gewesen, sie hinter sich zu schließen.
Henrietta schob den Schlüssel in ihre Tasche und schloss die Zimmertür. Dann ging sie zum Schrank hinüber. Der Teppich unter ihren Füßen schmatzte. Wasser lief um ihre Schuhe herum zusammen. Und dennoch kam ihr die Flucht aus ihrem eigenen verrückten Abenteuer wie eine weit, weit entfernte Vergangenheit vor.
Auf Zehenspitzen stakste sie durch den nassen Teppich, ging vor der Pforte in die Knie und schlüpfte hinein.
Wie auch beim letzten Mal, als Henrietta nach FitzFaeren geschlüpft war, erklang Musik. Von der Dunkelheit des Schranks umgeben, hörte sie einen Moment der Musik zu, die das Streichorchester spielte.
Sobald sie die Innenseite der Tür mit der Stirn berührte, stieß sie sie ohne zu zögern auf. Und dort, vor ihren Augen,
breitete sich die Szenerie aus, die zu sehen es sie so sehr in den Fingern gejuckt hatte. Der riesige Saal mit der Holzbalkendecke erstrahlte im Licht Hunderter Kerzen, die rundum an den mit Fresken verzierten Wänden und Säulen und in den riesigen Kronleuchtern brannten. Die hoch aufragenden Fenster waren nachtschwarz, aber sie reflektierten das Bild der Tänzer, die über die Tanzfläche schwebten.
Henrietta war klar, dass sie nicht einfach sitzen bleiben und zusehen konnte. Wenn sie Henrys Seifenblase platzen lassen wollte, musste sie ihn schleunigst finden. Wenn sie zu viel Zeit verstreichen ließ, bekäme sie den gleichen Ärger wie Richard und Henry. Oder noch mehr. Weil ihr Vater mit ihr strenger sein würde.
Daher begann sie die kleinen Frauen zu mustern. Sie wiegten sich in Kleidern, die heller leuchteten und zarter waren als jede Blume. Und ebenso musterte sie die Männer in ihren eng anliegenden Mänteln mit den kurzen Ärmeln. Sie durchforstete den ganzen Raum nach Elis Gesicht. Und dann, obwohl sie es noch nicht entdeckt hatte, zwang sie sich, die Kante des Schranks zu fassen und sich hinauszustemmen.
Die Musik erstarb. Die Kerzen waren verschwunden. Und ebenso die Leute und die Fenster und die Nacht und der größte Teil des Dachs und des Parkettbodens. Es war, als befände man sich im Knochengerüst eines riesigen Wales. An einigen Stellen waren die Deckenbalken noch erhalten, vier oder fünf Stockwerke hoch über ihr. Auch die meisten Säulen standen noch. Doch die majestätischen Fenster waren nichts anderes als überdimensionale Löcher. Licht fiel durch die Wolken und beleuchtete diesen Ort der Verwüstung. Und
jegliches Holz, das es beschien, und das einst in seiner eigenen Farbe schimmerte und mit Einlegearbeiten verziert war, erschien stumpf, kaputt, ausgebleicht und verwittert.
Hoch über ihrem Kopf hörte Henrietta Tauben hin und her flattern. Dies war ein typisches Geräusch für die Scheunen von Kansas, und dort freute sie sich immer daran. Auf diese Weise merkte man, dass die Scheune noch lebte, dass sie noch genutzt wurde. Hier aber war es eine Kränkung, eine letzte Entweihung.
Großvater hatte geschrieben, dass er diesen Ort zerstört habe. Henrietta fragte sich, wie er das gemeint haben könnte. Und sie hoffte, dass er sich getäuscht hatte.
Henry und Richard waren nirgends zu sehen. Aber eigentlich glaubte Henrietta nicht, dass sie so weit gekommen sein konnten. Selbst wenn sie vor Stunden durch die Pforte geschlüpft waren. Henry war schließlich blind, und er wusste, dass der Boden etwa so stabil wie ein Spinnennetz war. Er würde nicht zulassen, dass Richard allzu schnell ging.
Zunächst blieb Henrietta stehen und lauschte. Sie hoffte, irgendwo ein Knacken oder Knirschen zu hören, damit sie eine Grundrichtung einschlagen konnte. Ein Windhauch scheuchte die Tauben auf, ansonsten war der zerstörte Saal vollkommen still.
Vorsichtig mit dem Fuß den Boden prüfend, bewegte sie sich weiter in den Raum hinein. Ein paar Holzdielen brachen, andere seufzten und knarrten. Als sie sich ein gutes Stück von der Wand entfernt hatte, blieb sie stehen und lauschte erneut. Dabei drehte sie sich vorsichtig auf der Stelle.
Der Saal wurde von drei großen Portalen dominiert. Dazwischen
lag ein Dutzend kleinerer Wandöffnungen. Henrietta sah sich um und war drauf und dran aufzugeben. Der Saal war so groß, dass sie möglicherweise gerade in der einen
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