Fluch der 100 Pforten
sträubte sich, versuchte dem Druck von Henrys Vorstellungskraft zu widerstehen. »Und alles Gute kommt …«, jetzt trat er über die Klippe, »… von oben.«
Er fiel aber nicht. Der Traum erzitterte und das Meer und der Himmel und die treibenden Wolken – alles um ihn herum verschwand. Darius blieb in tiefer Dunkelheit zurück, wandte sich um und sah Henry in die Augen.
»Dein Traum ist beendet. Ein Weg ist bereit. Du wirst kommen.«
»Ich kann aufwachen!«, schrie Henry. »Jawohl, das kann ich.«
»Das wirst du«, wiederholte Darius. »Doch welchen Orts?«
Dann war er verschwunden – und mit ihm Badon Hill.
Für einen Moment krallte Henry sich noch im Moos fest. Schwärzeste Dunkelheit umgab ihn, aber das kühle feuchte Grün unter seinen Füßen, der Beginn seines Traums, blieb.
Ein Quietschen erklang aus dem Nichts, gefolgt von Richards flüsternder Stimme. »Henry? Henry? Ist es so weit? Bist du bereit?«
Die Stimme verhallte. Das Echo erstarb. Das Moos war verschwunden. Und Henry schlief einfach weiter.
Richard hatte noch nicht geschlafen. Er war schon länger um Henry herumgeschlichen, aber noch nie war er von ihm eingeladen worden, bei irgendetwas mitzumachen.
Er lag auf einem kleinen Stapel aus Decken als Matratze in seinem Schlafsack und wartete darauf, dass Henry ihn rief.
Henry war ein ziemlich lauter Schläfer. Er murmelte und knurrte und von Zeit zu Zeit trat er mit dem Fuß. Durch die Tritte erzitterte jedes Mal der Boden. Richard war schon zweimal aufgestanden, um nach ihm zu sehen. In beiden Fällen hatte er die Türen nur einen Spalt breit geöffnet und vorsichtig ins Zimmer gelinst. Sehen konnte er nichts, aber umso besser hörte er. Henry redete irgendwas im Schlaf.
Als Richard das dritte Mal kam, hatte Henry ärgerlich geklungen. Ärgerlich und so als hätte er Schmerzen. Und irgendetwas hatte gekracht. Wahrscheinlich hatte er wieder irgendwo gegen getreten. Und sich am Fuß wehgetan.
»Henry?«, flüsterte Richard. »Henry? Ist es so weit? Bist du bereit?«
Keine Antwort.
Richard schlüpfte leise ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Der Raum war stickig, aber vollkommen still. Henry hatte aufgehört zu murmeln. Er bewegte sich auch nicht mehr.
Richard knipste die Lampe an und betrachtete seinen Freund. Henry presste seinen Rucksack auf seine Brust und hatte die Augen fest geschlossen. Ein bisschen Schmiere trat wieder aus ihnen aus, aber geschwollen waren sie nicht mehr.
Richard beugte sich über Henry, befühlte die Augen vorsichtig und war froh, dass sie anscheinend wieder völlig normal waren.
Ein Luftzug strich durch den Raum. Er wehte hinter Richard vorbei zu den Fächern, wurde stärker, heftiger, pfiff beinahe. Das Postfach stand offen.
Mit einem unvermittelten, harten Stoß begann der Raum zu verschwimmen. Richard hatte das Gefühl, seinen Magen irgendwo weit hinter sich gelassen zu haben, als er auf die Fächerwand zugeweht wurde − viel zu schnell, um die Arme hochreißen zu können, obwohl er es noch versuchte.
Er hätte es gar nicht versuchen müssen. Noch bevor er gegen die Wand knallte, war er bewusstlos. Wobei er gar nicht richtig gegen sie prallte. Er flog durch sie hindurch, in einen anderen Raum hinein und donnerte dort gegen eine andere Wand – irgendwo ganz anders.
Von einem Staubwirbel umgeben, lag sein kraftloser Körper auf dem von Henry. Und beide lagen – ohne es zu bemerken – in einem gelben Raum.
Henrietta gab sich alle Mühe, damit ihre Schwestern schnell einschliefen. Sie reagierte auf keine von Anastasias Bemerkungen, auf ihre Fragen oder ihr Flüstern. Sie ignorierte sogar eine alte Stoffpuppe, die ihre jüngere Schwester vom unteren Teil des Etagenbetts aus durch das Zimmer geschleudert hatte.
Nachdem Anastasia endlich aufgegeben hatte, hatte Henrietta sich Penelope gewidmet. Mit ihrer verschlafensten Stimme.
»Penny, wie lange willst du deine Leselampe noch anlassen?«
»So hell ist die doch nicht«, antwortete Penelope. »Dreh dich einfach um.«
Henrietta seufzte und wälzte sich schwerfällig auf die andere Seite. »Aber wie lange willst du denn noch lesen?«, fragte sie. »Doch wohl hoffentlich nicht wieder bis vier Uhr früh? Ich kann mich erinnern, wie du das getan hast, als du ›Black Rose‹ gelesen hast, diesen alten Schinken. Da warst du die ganze Zeit einfach unerträglich!«
»Weil das Buch so schrecklich war.«
»Du warst schrecklich«, meinte Anastasia lachend. »Stimmt’s,
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