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Fluch der 100 Pforten

Fluch der 100 Pforten

Titel: Fluch der 100 Pforten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Wilson
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Kansas, und vor ihm auf dem Boden stand auf einem dicken Teppich eine riesige Porzellanschale. An ihren Wänden flossen blaue Muster und Figuren ineinander. Ihr Inneres war mit einem trüben Öl gefüllt, auf dem kleine Blättchen und Ästchen schwammen. Henry beugte sich vor und
erkannte den Geruch von Zimt wieder. Und von Nelken. Daneben auf dem Boden lag sein Rucksack.
    Henry stand auf und atmete noch einmal tief ein. Sein Kleid war aus bräunlichem Leinen. Es hatte keine Ärmel und hing gerade auf die Knie herab. Seine Klamotten konnte er nirgends entdecken.
    Er ging zum nächsten Fenster und zog den Vorhang beiseite. Ein Balkon breitete sich vor ihm aus. Er reichte bis zu einer flachen Brüstung, und jenseits dieser Brüstung öffnete sich die Erde zu einem tiefen Tal. In der Entfernung, weit unten, war ein Teppich aus Dunst und Gebäuden und lautlos paffenden Schloten zu erkennen. Aber dort, wo er stand, war der Himmel auf merkwürdige Weise blauer als Henry es je gesehen hatte, und der Wind war frisch und klar.
    Ein Mann und eine Frau mit weißen Haaren saßen auf einer flachen Bank an der Brüstung und aßen Obst. Der Mann wandte sich Henry zu und lächelte ihn an.
    »Komm zu uns, Bettelsohn«, sagte er. »Es gibt noch andere Erfrischungen als den Schlaf.«
    Henry trat unbehaglich von einem Bein auf das andere. »Wo sind meine Kleider?«, fragte er. »Ich möchte mich erst anziehen.«
    »Du bist doch angezogen«, entgegnete der Mann. »Außerdem haben wir dich beide im Adamskostüm gesehen. Meine Frau hat dich heute Nacht zweimal gebadet, und ich war ihr Helfer.«
    Henry bekam heiße Ohren. Er hoffte, er sah nicht so rot aus, wie es sich anfühlte.
    »Wenn auch kein allzu guter Helfer.« Die Frau lachte und
ihre Stimme klang warm und sanft, wie weiche Erde. Ihre Haut war glatt und erschien unter ihrem Haar recht dunkel. »Komm«, forderte sie Henry auf. »Setz dich zu uns und erzähl. Wir möchten gern ein paar Dinge von dir wissen.«
    Henry blieb stehen. Er hatte keine Lust, sich neben einen von den beiden zu setzen. Der Mann rutschte von der Bank, lief über den Balkon und kam mit einem Holzstuhl und einem Kissen zurück. Beides stellte er neben die Steinbalustrade und setzte sich dann wieder zu seiner Frau. Henry folgte dem Mann zögernd und nahm linkisch Platz. In diesem Kleid wusste er nicht, wie er die Beine halten sollte.
    Der Mann und die Frau saßen Henry gegenüber. Ihr Tablett mit Früchten hielten sie auf dem Schoß. Längliche dunkle Trauben, Pfirsiche und Früchte, die Henry nicht kannte, lagen dort beieinander.
    Henry nahm sich eine kleine Traubenrispe. »Wo bin ich?«, erkundigte er sich.
    »Du bist in unserem Haus«, antwortete der Mann. »Früher haben wir dort unten in der Unterwelt gewohnt.« Er deutete mit dem Kopf nach unten ins Tal. »Aber jetzt leben wir im Paradies. Wir sitzen einfach hier und sehen zu, wie die große Stadt an ihrem eigenen Gestank erstickt.«
    »Und wer sind Sie?«, wollte Henry wissen.
    Der Mann zupfte ein wenig an seinem nahezu weißen Bart. »Du kannst Ron zu mir sagen.«
    »Und ich bin Nella«, ergänzte die Frau. »Aber wie sollen wir dich denn nennen?«
    Henry steckte sich eine Traube in den Mund und schob sie in die Backentasche. »Mein Name ist Henry York.«

    Ron setzte sich auf. »Dein Name?«, hakte er nach. »Du hast einen Namen erhalten?«
    Henry starrte ihn verwundert an. »Warum sollte ich keinen Namen haben?«
    »Nun ja …« Ron deutete auf Henrys Bauch. »Die Schnitte, die deinem Bauch als Ritual zugefügt wurden, dienen einem ganz bestimmten Zweck; einem ziemlich düsteren bestimmten Zweck. Bevor du hierher geflohen bist, hat man einen recht blutigen Benennungsritus an dir vollzogen – oder ihn zumindest eingeleitet. Er kann nur an Unbenannten vollzogen werden. Wer schon einen Namen hat, stirbt.«
    »Ich habe die Wunden geschlossen«, sagte Nella. »Die Haut ist wieder zu. Aber ich fürchte, das Mal, das dieser Mann dir beigebracht hat, wird für immer sichtbar bleiben.«
    Henry fasste sich an den Bauch.
    Ron beugte sich vor und seine Augen blitzten. »Dabei ist dein eigenes Mal weitaus interessanter«, sagte er. »Es ist sehr selten und es ist eines, das mir äußerst sympathisch ist. Ich habe es bisher nur einmal gesehen, als ich jung war, und es tanzte auf dem Fleisch meines Cousins. Zeig mal deine Hand.«
    Henry hob den Arm und zeigte den beiden seine Handfläche. Während Ron und Nella das Zeichen betrachteten, beobachtete er ihre Gesichter.

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