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Fluch der 100 Pforten

Fluch der 100 Pforten

Titel: Fluch der 100 Pforten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Wilson
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Ihre dunklen, reglosen Augen wurden schmal und blitzten dann plötzlich auf, und jede Pupille reflektierte das Bild der tanzenden Flamme in Henrys Handfläche.
    »Ihr könnt es sehen?«, fragte Henry.
    Aber sie antworteten nicht und starrten das Bild gebannt an.

    Das Brandmal war durch Henrys Rutschpartie am Rohr entlang aufgerissen und ausgefranst. Aber als er hinsah, nahm das, was eigentlich nur wie eine Verletzung aussah, Gestalt an. Es bewegte sich wie eine Schlange unter seiner Haut. Und nicht nur unter ihr, sondern ebenso auf ihr, in ihr drin und durch sie hindurch. Und es nahm jede Farbe bis hin zu Gold an.
    Henrys Kopf begann zu pochen.
    Er hörte, wie Ron tief einatmete. Dann begann er zu sprechen. Seine Stimme klang distanziert, wie eine eindringliche Verlautbarung.
    »Henry York«, sagte er. »Das Feuer des Löwenzahns mischt sich in dein Blut.«
    Eine sanfte Hand fasste Henry am Kinn und zog es beiseite.
    »Sieh nicht hin«, sagte Nella. »Es ist noch zu stark für dich.«
    Er sah sie an und die Kinnlade fiel ihm herunter. Sie war ein Gedicht, eine Geschichte. Hunderte Gesänge bewegten sich in ihren Augen und wanden sich wie Ranken, wie Fasern des Lebens aus ihrem Mund. Es sah wunderschön aus. Und gleichzeitig furchterregend.
    Nella schob ihre Hand über seine Augen und drückte ihm die Lider zu.
    »Genug«, sagte sie. »Nutze dein Leben, um die Gesänge der Welt kennenzulernen – oder werde auf der Stelle verrückt.«
    »Aber da gibt es noch so viel zu sehen!«, rief Henry. »Nur noch einen Augenblick!«
    »Nein.« Nellas Stimme klang unerbittlich. Dann lachte sie. »Wenn du dich jetzt von der Klippe des Wahnsinns stürzt,
müssen wir dich hierbehalten. Und das würde mir überhaupt nicht gefallen.«
    Sie zog ihre Hand zurück und Henry blinzelte.
    »Das war wirklich merkwürdig«, sagte er.
    Ron nickte. »Die Strömung kann dich mitreißen, bevor du schwimmen gelernt hast.«
    »Und die ganze Welt besteht aus …« Henry wusste nicht, wie er es nennen sollte. »Na, aus solchen Dingen? Damals, mit dem Löwenzahn, kam es mir vor wie ein lebendiges Wort. Aber jetzt mit euch …« Er wandte sich an Nella. »Da waren es viel mehr und alle wucherten ineinander. Tausende Ranken, die gleichzeitig wuchsen und sich verwandelten und veränderten und sprachen. Aber was davon ist denn nun echt?«
    Ron lächelte. »Alles, was du siehst, ist echt. Und das, was du gesehen hast, ist auch echt. Du bist ein siebter Sohn. Du hast den zweiten Blick. Du kannst ein Ding sehen und gleichzeitig das, was es eigentlich ausmacht. Du kannst es die Seele nennen, wenn du willst, oder seine Geschichte oder Kern. Wenn du ein gewisses Alter erreicht hast, gelingt es dir vielleicht sogar, das innere Wesen der Dinge zu erkennen, etwas dazu beizutragen und im Gegenzug etwas von ihm zu erhalten.« Er lachte. »Ich weiß, es ist schwer, diese neue Dimension der Welt zu verstehen. Du weißt doch, Henry, dass Töne die Luft in Wellen versetzen, bevor sie an dein Ohr kommen und du sie hören kannst. Nun stell dir vor, du könntest die Wellen nicht nur hören, sondern auch sehen und jeden Laut auf doppelte Weise wahrnehmen. Genauso ist es mit dem zweiten Blick. Du siehst zwei Seiten von einem Ding, und jede dieser Seiten ist echt.«

    »Ihr beide könnt mein Brandmal sehen«, sagte Henry. »Dann habt ihr also auch den zweiten Blick?«
    »Ich habe sechs ältere Brüder, wobei keiner von ihnen mehr lebt«, sagte Ron. »Und bei den Frauen ist es ohnehin anders.«
    »Ja«, bestätigte Nella. »Wir sehen nicht immer dasselbe, aber auch ich habe den zweiten Blick. Eine Frau erhält ihn nicht durch die Geburt, sondern wenn sie dazu auserkoren ist. Und er kommt nicht mit dieser Heftigkeit und diesen Schmerzen.«
    Ron legte seine Hände auf die Knie und setzte sich ein wenig auf. »Ich bin froh, dass dich deine Flucht zu mir geführt hat, Henry York, und heute Abend musst du uns erzählen, wie du entkommen bist. Wir werden Gäste haben, die es auch hören möchten. Aber jetzt werde ich dir ein paar Kleider suchen. In den nächsten Tagen haben wir genügend Zeit, um Geschichten zu erzählen. Du brauchst noch viel Ruhe.«
    »Oh«, sagte Henry. »Aber ich muss unbedingt wieder nach Hause. Am besten noch heute. Und ich fühle mich gut. Ich muss unbedingt zum Postamt.«
    Ron stand auf und runzelte die Stirn. »Das hast du auch zu mir gesagt, als du abgestürzt bist. Ich habe in deinem Rucksack nachgesehen und nichts gefunden, was verschickt werden müsste.

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